Das Massaker von Kunduz

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Vor gut einer Woche schrieb ich über das Massaker an Zivilisten am 4. September: „Die heutige „Spiegel“-Veröffentlichung markiert einen Wendepunkt – für die beschuldigten Soldaten, in der Afghanistan-Debatte und vor allem: in der Geschichte der ,Berliner Republik´.“
Die seither an die Öffentlichkeit gelangten weiteren Einzelheiten zu dem „umstrittenen Luftschlag nahe Kunduz“ bestätigen diese Einschätzung. In der aktuellen Ausgabe zitiert der „Spiegel“ aus dem Bericht von Oberst Klein an den – inzwischen entlassenen – Generalinspekteur:

"Am 4. September um 01.51 Uhr entschloss ich mich, zwei am Abend des 3. September entführte Tanklastwagen sowie an den Fahrzeugen befindliche INS (Insurgents, auf Deutsch: Aufständische) durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten."

Massaker

Eugene Delacroix: Das Massaker von Chios (1824)

Bei den „Aufständischen“, den „INS“, handelt es sich – wie Sie wissen – um die Taliban. Die Taliban sind eine faschistische Mörderbande, keine Frage. Während ihrer Herrschaft hatten sie in Afghanistan selbst ein furchtbares Terrorregime aufgebaut und das Land zur Basis des Al-Qaida-Netzwerks gemacht. Gegen sie richtet sich der Auftrag der Vereinten Nationen an die NATO, den Frieden in Afghanistan zu erzwingen. Zum ISAF-Mandat schreibt Wikipedia: 

Die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe, kurz ISAF (aus dem engl. International Security Assistance Force), ist eine Sicherheits- und Aufbaumission unter NATO-Führung in Afghanistan.
Die Aufstellung erfolgte auf Ersuchen der Teilnehmer der ersten Afghanistan-Konferenz 2001 an die internationale Gemeinschaft und mit Genehmigung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (Resolution 1386 vom 20. Dezember 2001). Der Einsatz ist keine Blauhelm-Mission, sondern ein sogenannter friedenserzwingender Einsatz unter Verantwortung der beteiligten Staaten.
Das Mandat für die Beteiligung deutscher Soldaten am ISAF-Einsatz wurde am 22. Dezember 2001 erteilt. In der deutschen Terminologie wird die ISAF häufig auch als Schutztruppe bezeichnet.
 

Ein Wendepunkt in der Geschichte der ,Berliner Republik´

Hier war er, der Wendepunkt, mitten im Wikipedia-Zitat. Aus einem „friedenserzwingenden Einsatz“ wird in der deutschen Publizistik eine „Schutztruppe“. Wurde anfangs, also vor acht Jahren, noch die Illusion genährt, die Bundeswehr sei eigentlich nur wegen der notwendigen „zivilen“ Aufbauarbeiten am Hindukusch, also so eine Art Oderbruch oder Elbe-Jahrhundertflut, nur eben im Ausland, so sehen wir seit einigen Jahren etwas klarer, aber eben auch nur etwas.
Schulen gründen, Brunnen bauen, Polizei ausbilden, usw. – leider mögen dies die Taliban nicht. Deshalb müssen die Lehrer, Entwicklungshelfer und Polizisten geschützt werden. Von der Bundeswehr, die folglich eine Schutztruppe sei. Da ist es schon komisch, dass Oberst Klein wie selbstverständlich seinem Vorgesetzten meldet, er habe Taliban „vernichten“ wollen. Und er sei davon ausgegangen, „mit höchster Wahrscheinlichkeit nur Feinde des Wiederaufbaus (zu) treffen".
So weit alles „normal“. Beim Militär.

Aber eben auch nur beim Militär. Für die deutsche Öffentlichkeit ist diese Art von „Normalität“ in jeder Hinsicht erschreckend ungewohnt. Und das ist das, was ich letzte Woche mit dem Wendepunkt in der Geschichte der „Berliner Republik“ meinte.
Das Publikum ist erschrocken, das Militär aber auch. Quer durch alle Dienstgrade mag man es nicht, an der Front den Kopf hinhalten zu müssen, und dann womöglich noch an der Heimatfront vor den Kadi gezerrt zu werden. Folglich wird jetzt auch daheim das Feuer eröffnet. Der deutsche Vier-Sterne-General Lather, einer der höchsten Nato-Generäle, wird auf Spiegel Online folgendermaßen zitiert:

"Ich denke, das war ein Ziel, ein militärisch legitimes Ziel - wenn Sie annehmen, dass wir uns in kriegsähnlichen Zuständen befinden."
Nur mal so angenommen, „legitim“ sei etwas Ähnliches wie „legal“, stellte sich für die „Spiegel“-Leute immer noch die Frage, ob er die Tanklastzüge oder aufständische Taliban für ein legitimes militärisches Ziel halte, sagte er: "Das ist eine Kombination von beidem. Denn diese Tanklastzüge wären ja möglicherweise, wie wir das eine Woche zuvor in Kandahar erlebt hatten, als Bombe benutzt worden."
Gut, aber inzwischen wissen wir, dass es weniger um die Laster als um die Menschen ging. Doch darum geht es Vier-Sterne-General Lather nicht:
Ob das Handeln des deutschen Oberst angemessen gewesen sei, könne er nicht beurteilen: "Die Entscheidung, wie Sie dann konkret vor Ort handeln in der taktischen Situation, in der sich Oberst Klein befunden hat, das bedarf der Einzelbewertung. Das ist aus meiner Sicht eher eine Anekdote, ein einzelnes Handeln."

Eine Anekdote ist laut Wikipedia eine Schilderung einer kuriosen, ungewöhnlichen oder komischen Begebenheit (ohne jeden literarischen Anspruch). Sehr komisch. Kurios: 150 Leute weggebombt. Fast schon ungewöhnlich. Aber – wie gesagt – es geht um etwas Anderes, etwas Grundsätzliches:
Das Handeln des deutschen Oberst dürfe nicht nach deutschem Zivilrecht bewertet werden: "Ich denke, wir müssen politisch, rechtlich und militärisch erkennen, dass wir in einer Situation sind, die anders ist als reine Stabilisierung … Und damit ändern sich die rechtlichen Bedingungen, unter denen Soldaten dort handeln können."
Ende der Durchsage.

Freilich meinte der General nicht das „deutsche Zivilrecht“, sondern das deutsche Strafrecht. Aber weil dies eben für Zivilisten gemacht ist …
Ein General ist ein General, und ein Jurist ist ein Jurist. Das Wort hat der renommierte Völkerrechtler Hans-Peter Folz, und zwar heute, und zwar in einem Interview der "Stuttgarter Zeitung".
In einem möglichen Gerichtsverfahren werde Oberst Klein "mit Sicherheit entlastet werden". Was man ihm nach dem Bombardement der Tanklastzüge nicht vorwerfen könne, sei ein Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Schwieriger, so Folz, sei die Beurteilung nach dem deutschen Strafrecht. Allerdings sei Klein nicht zu vergleichen mit einem Autofahrer, der den Tod eines anderen Fahrers verursache. "Da für ihn die Bedrohungslage bestand und er zeitnah entscheiden musste, also nicht ausreichend aufklären konnte, würde ich auch in dieser Hinsicht davon ausgehen, dass das Verfahren gegen ihn eingestellt wird", sagte der Völkerrechtler.
Aber ein Restrisiko bleibt. Bei diesem blöden deutschen Strafrecht, das der General Zivilrecht nennt, und deshalb nicht angewandt wissen will. Nicht dass ein tapferer Oberst hinterher doch noch mit einem besoffenen Autofahrer auf eine Stufe gestellt wird! Und was erst, wenn sich nicht nur herausstellt (nicht nur Spiegel-, alle Zeitungsleser wissen mehr, Herr Professor), dass weder eine Bedrohungslage bestand, noch zeitnah entschieden werden musste? Wenn womöglich gar bewiesen werden kann, dass die US-Bomberpiloten diesbezüglich wiederholt gezielt belogen wurden?

Vielleicht gibt in Kürze ein Jura-Professor ein Interview zu dem Problem, was die Merkmale sind, und wann sie hinreichend vorliegen, um das Töten eines (oder mehrerer) Menschen als „Mord“ bezeichnen zu können. Vielleicht auch nicht. Dann schreibe ich etwas dazu.

Werner Jurga, 15.12.2009

 

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