Das Wunder von Duisburg

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Manchmal kommt Geschichte mit Pauken und Trompeten daher, meistens jedoch mit leisen Tönen und auf leisen Sohlen. Vieles, was mit Pauken und Trompeten daherkommt, erweist sich im Nachhinein als Episode, wenn es denn nicht völlig in Vergessenheit geraten ist. Dagegen ist Geschichte voll von Ereignissen, die im Moment ihres Geschehens recht wenig Beachtung finden, an die aber noch Jahre und Jahrzehnte später erinnert wird. Historische Ereignisse.

Am Dienstag, den 27. Januar 2009, zogen etwa zweihundert Duisburger bei eisiger Temperatur schweigend von der Synagoge zur Salvatorkirche. Auf dem Burgplatz verfolgten sie die Gebete, die vier Geistliche anlässlich des 64. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz sprachen.
Die rund zweihundert Duisburger zeigten Flagge für Frieden und Toleranz und schrieben damit

ein Stück Stadtgeschichte

Es gibt Situationen ohne die Wahlmöglichkeit zwischen Gründlichkeit und Schnelligkeit.
Am 10. Januar 2009 ereignete sich bei einer Großdemonstration der antisemitischen Organisation Milli Görüs der unsägliche Vorfall. Die hoffnungslos unterbesetzte Polizei sah keine Alternative zum gewaltsamen Eindringen in eine Privatwohnung und zum Entfernen einer israelischen Fahne, um die öffentliche Sicherheit garantieren zu können. Eine Woche später, am 17. Januar 2009, war die Polizei gewappnet. Bei einer Demonstration der radikal-islamistischen HDR (human dignity and rights !), auf der Sprechchöre Adolf Hitler um Hilfe gegen die Juden riefen, konnte ein weiterer Eklat verhindert werden. Dazu musste allerdings die Demonstration abgebrochen werden, bevor sie auf eine kleine Gruppe pro-israelischer Gegendemonstranten hätte treffen können.
Wo leben wir eigentlich? Es war Zeit, ein Zeichen zu setzen. Es war höchste Zeit, und es war wenig Zeit. Zehn Tage – von diesem 17. Januar bis zum 27. Januar, dem weltweiten Holocaust-Gedenktag. Und es war klar: es konnte nicht um ein Signal gehen, das nur die Stadtoberen gemeinsam mit den „üblichen Verdächtigen“ aussenden. Jetzt kam es darauf an, alle Gruppen der Stadtbevölkerung mitzunehmen – bei all ihrer Verschiedenartigkeit, bei all ihren Meinungsverschiedenheiten, erst recht bei einem so heiklen, weil emotionalen Thema wie dem Nahostkonflikt. Es musste gelingen, alle Vertreter der bunten Stadtgesellschaft auf ein gemeinsames Bekenntnis für ein tolerantes und friedliches Zusammenleben einzuschwören. In zehn Tagen!

Ein Beispiel aus einem völlig anderen Zusammenhang: CDU und FDP gewinnen irgendeine Landtagswahl. Am Wahlabend verkündet der CDU-Spitzenmann in die Fernsehkameras, er rechne mit keinerlei Problemen, mit sehr zügigen Koalitionsverhandlungen. In drei oder vier Wochen könne der Koalitionsvertrag schon fertig sein.
Gewiss, alle Vergleiche hinken, wie auch dieser. In Duisburg waren nicht etliche Projekte aus vielen Politikfeldern zu besprechen; es ging „nur“ um einen gemeinsamen Aufruf für ein gemeinsames Signal … getragen von der Jüdischen Gemeinde und dem Moscheeverein, von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und der DITIB, um nur Beispiele zu nennen.

Gleich am Montag, dem 19. Januar, ging es ans Werk: die erste Konferenz beim Oberbürgermeister. Im Laufe der Woche eine zweite. Zwischendurch und hinterher Hintergrundgespräche, eMails, Telefonate zu später Stunde. Die ein oder andere Kröte war doch recht schwer verdaulich. Aber allen war klar: wer hier aussteigt, tut unserer Stadt keinen Gefallen. Und seinen Leuten nicht. Und sich selbst schon gar nicht. Am letzten Wochenende „stand“ der gemeinsame Aufruf zur Kundgebung für ein tolerantes und friedliches Zusammenleben in Duisburg.

Das Wunder von Duisburg

Und so zogen sie vorgestern gemeinsam los, Christen, Juden und Muslime. Von der Synagoge zur Salvatorkirche. Organisiert vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Unter der Schirmherrschaft des Oberbürgermeisters.
Der Alt-Oberbürgermeister plauderte mit der türkischen Preisträgerin auf der Bühne des jüdischen Gemeindesaales. Am Rande der Kundgebung scherzten Leute von der DITIB mit Leuten von der DIG. Und auf der Rathaustreppe beteten die Geistlichen für den Frieden, der Alevit, der Jude, der Christ und der Muslim. 

Friede, Freude, Eierkuchen, serviert in reichlich Harmoniesoße?
Um Himmels Willen! Wir Duisburger sind verschieden und wollen es auch bleiben. Und wenn es sein muss, dann streiten wir uns auch. Friedlich, wie sich das für zivilisierte Menschen gehört. Aber wenn es sein muss, dann zeigen wir Flagge. Gemeinsam. Für Toleranz. Für das Recht auf Anderssein. Und vorgestern musste es sein. Es war höchste Zeit. So wenig Zeit; da konnten nicht sehr viele kommen. Oder, wie es in einem WAZ-Kommentar treffend heißt: es waren nicht viele dabei, aber alle.

Wir Duisburger haben Flagge gezeigt. Wir dürfen stolz auf uns sein!
Es soll nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen sein. Aber auch hier ist eine Menge nicht so, wie es sein soll. Wir wollen das ändern. Hier ist eine Menge erreicht worden; das wollen wir uns nicht kaputt machen lassen. Von niemandem. Dass wir alle das jetzt einmal allen gesagt haben, das ist – wenn Ihnen „historisch“ zu pathetisch sein sollte – beispiellos. Vom 27. Januar 2009 in Duisburg wird noch die Rede sein.

Werner Jurga, 29.01.2009

 

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