Der Fortschritt der Zeit

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Die Geschichte der abendländischen Kultur ist eine Geschichte des Zeitbewusstseins. Die europäische Dynamik resultiert aus der permanenten Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit. Zivilisatorische Ergebnisse, die über Jahrhunderte hinweg recht stabil bleiben, werden ergänzt durch für bestimmte historische Phasen typische Verhaltensmuster. Immer neue Erlebnisse und Erfahrungen akkumulieren sich zu einer Tradition, die sich als Wandlungskontinuum darstellt. Die Entwicklung des Zeitbewusstseins ist weder gradlinig noch gleichmäßig verlaufen … 
 

Der Fortschritt und seine Kritiker

Auch wenn Elias mit dem für ihn typischen Nachdruck vorschlug, den Terminus „Fortschritt“ als Kategorie zur Deskription von Tatsachen im wissenssoziologischen Sinne zu benutzen, konnte er sich doch - er schien dies zu spüren - damit im Grunde nicht durchsetzen. Ein Werturteil klebt dem Begriff scheinbar unauslöschlich an. Mehr als die nüchterne Beschreibung der beobachtbaren realen Entwicklung soll der Fortschrittsbegriff die Hoffnung symbolisieren, der Zivilisationsprozeß nehme einen wünschenswerten Gang. Diese optimistische Auffassung „ist umstritten. Wie früher schon wird dieses Fortschrittsdenken noch immer durch kirchliche Kreise in Frage gestellt, dazu kommen die eher als konservativ zu wertenden romantischen Individualisten und diejenigen linken Opponenten, die Fortschrittsdenken fälschlicherweise für eine Erfindung des Kapitalismus halten“[23].
Vielen erscheint der Verzicht auf den Fortschritt geradezu ideal. Dies kommt in der paradoxen Forderung nach einem „Null-Wachstum“ zum Ausdruck, womit wohl eine vermeintlich elegantere Formulierung als „Stillstand“ gewählt wurde.

Auch wenn Mannheims Abqualifizierung fortschrittsfeindlicher Strömungen in ihrer Radikalität nicht mehr ganz aktuell erscheinen mag, verdient m.E. seine Bestimmung ihrer soziokulturellen Basis auch gegenwärtig Beachtung; für ihn ist die Zivilisationskritik „motiviert von der Angst um eigene Privilegien; bestenfalls ist sie Ausdruck einer gewissen poetischen Sensibilität“[24].

Werner Jurga, 1999

Auszug aus: Die politische Dimension von Zeit in der Wissenssoziologie von Norbert Elias. Dissertation, Kapitel 5: Der Fortschritt der Zeit

 

[23] Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 627. - Man kann das Fortschrittsdenken auch umdrehen und - auf die Spitze getrieben - es als „Ziel“ der Evolution ansehen, dass die Menschheit die Aufgabe habe, sämtliches Leben auf der Erde auszulöschen, um so die Erde wieder der „Ruhe des Anorganischen“ anzuvertrauen. Aus diesem Denken lassen sich sogar poetische Funken schlagen, wie bspw. Horstmann folgendermaßen demonstriert: „Die Geschichte des Untiers ist erfüllt, und in Demut harrt es des doppelten Todes - der physischen Vernichtung und der Auslöschung der -Erinnerung an sich selbst... Über dem nackten Fels seiner Heimat aber wird Frieden sein, und auf den Steinen liegt der weiße Staub des Organischen wie Reif." (Horstmann, U.: Das Untier, S. 113).

[24] Kettler, D. / Meja, V. / Stehr, N.: Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim, S. 26. - Als eher abschreckendes Beispiel einer solchen „poetischen Sensibilität“ mag der eben zitierte Ulrich Horstmann gelten. 

 

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