Faruk Sen

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Der Leiter des Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, verglich in einer türkischen Zeitung die heutige Diskriminierung von Türken in Europa mit der von Juden im Europa von einst. Dieser Vergleich wurde aufs Schärfste kritisiert. Sen wurde zwangsbeurlaubt und muss höchstwahrscheinlich seinen Posten räumen.
So stellt sich einmal wieder die Frage, was man sagen darf und was nicht. Sergey Lagodinsky erlaubt anderen und ich mir so einiges. Lagodinsky hat in der Tageszeitung (taz) den Kommentar „Die Grenzen des Akzeptablen“ veröffentlicht, den ich hier freilich nicht ungekürzt zeigen darf. Den vollständigen Text lesen Sie bitte hier.
Da auch mich diese Thematik stark interessiert, ich aber Lagodinsky nicht umstandslos zustimme, und weil Sergey und ich uns flüchtig kennen, habe ich ihm geschrieben.

Werner Jurga, 09.07.2008.

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Sergey Lagodinsky ist Mitbegründer und Sprecher des 2006 gegründeten Arbeitskreises „Juden in der SPD“; er arbeitet als Jurist und Publizist. 1993 kam er als jüdischer Zuwanderer nach Deutschland. Derzeit forscht er zu Meinungsfreiheit und Schutz vor Antisemitismus im deutschen Verfassungsrecht und im Völkerrecht.

Lieber Sergey,

soeben habe ich in der taz Deinen Kommentar „Die Grenzen des Akzeptablen“ gelesen. Dazu einige Anmerkungen:

Du schreibst: „Mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zum Opferkollektiv lässt es sich hierzulande offenbar leichter leben.“ – Wenn Du es sagst, Du musst es ja wissen. Mir ist es, wie Du weißt, jedenfalls nicht vergönnt, einen Gedanken mit der Formulierung zu beginnen:Von jüdischer Warte aus betrachtet ...“ – Was ist mit denjenigen Juden, die Sens Vergleich sehr wohl für ein skandalöses Unterfangen“ halten? Findest Du im Ernst, dass die aus unjüdischer Warte betrachten?
Jedenfalls muss Faruk Sen auch deren „Befindlichkeit“ unangenehm berührt haben, was ich nur erwähne, weil Du weiter schreibst:
„Der Verdacht liegt nahe, dass die ablehnenden Reaktionen auf Sen nichts mit den Befindlichkeiten der Juden, sondern mehr mit den Befindlichkeiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu tun haben.“
Dies ist, bis auf meinen bereits geäußerten kleinen Einwand, offensichtlich unbestreitbar. Und Du hältst ja diesen Verdacht für bestätigt:
„Dass Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland genauso wie jüdische Stimmen aus der Türkei ihr Unverständnis über die Reaktionen auf Sens Vergleich geäußert haben, liefert dafür eine Bestätigung.

Wie gesagt, lieber Sergey, das ist ja nicht von der Hand zu weisen; aber sei mir nicht böse, dass ich insistiere: „Vertreter des Zentralrats“. Mein Gott, Du weißt doch besser als ich, und Deine Formulierung verrät es, dass es auch andere Vertreter gibt. Eben die einen und die anderen.

Der nächste Punkt:
 „Mit einer Arroganz der Geläuterten glauben wir Deutsche gerne ...“ Ich vermute, auf Genöle an dieser Formulierung wirst Du – wenn auch nicht von mir – vorbereitet sein. Ist ja auch ein Clou: aus jüdischer Warte glauben wir Deutsche, mit einer Arroganz der Geläuterten, selbstverständlich gerne. Nicht schlecht, aber ist das nicht ein wenig zu dick aufgetragen? Vorbereitet oder nicht: bitte glaube mir einfach, Sergey, dass ich an einer Loyalität von deutschen Juden zu Israel genauso wenig auszusetzen habe wie an einer Loyalität von deutschen Türken oder türkischstämmigen Deutschen oder Türken in Deutschland zur Türkei. Ich stimme Dir zu, dass diese sog. „Doppel-Loyalität“ der Kern der von Dir so bezeichneten wichtigen Debatte darstellt. Und dennoch: irgendetwas gefällt mir an Deinem – von mir zitierten - Satz nicht. Musstest Du etwa „geläutert“ werden? Sollte ich „geläutert“ werden, erwartest Du von mir eine Identifikation mit den Tätern? – Mir genügt, mir über den deutschen Nationalcharakter, der sich nicht vornehmlich durch Antisemitismus, sondern durch Gründlichkeit, Unerbittlichkeit und einen Überbietungszwang „auszeichnet“, im klaren zu sein und darüber, durch ihn geprägt zu sein.
Als Kleinkind habe ich erlebt, wie „die“ Deutschen – auch hier gab es deutliche Unterschiede – die ersten türkischen Gastarbeiter behandelt haben. Sich von diesem Habitus zu distanzieren war für viele meiner Generation so selbstverständlich wie die moralische Verurteilung der Eltern und Großeltern wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Verstrickung in den Holocaust. Unsere Sensibilität bezüglich der Türkenfeindlichkeit resultierte aus dem Wissen um den Judenmord. Ja Sergey, wir entwickelten eine „Arroganz der Geläuterten“ (ja Gott, so etwas gibt es auch in Israel); aber wir erkannten die Zusammenhänge.

Du schreibst:
„Die Thesen einiger (zumeist israelischer) Forscher, welche die Ressentiments gegen die Juden im 19. Jahrhundert mit denen gegen türkischstämmige Einwanderer im heutigen Europa verglichen, konnte man durchaus als zu weitgehend empfinden. Keiner indes empfand sie als ,inakzeptabel`.“
Selbstverständlich nicht; denn ein solcher Vergleich ist keineswegs „inakzeptabel“, vielmehr drängt er sich auf. Jedoch hat Sen es nicht bei den Juden im 19. Jahrhundert bewenden lassen, sondern unstreitig das folgende in seinen Vergleich mit einbezogen. Auch wenn mir keine deutsche Übersetzung des Originaltextes vorliegt: sein Verweis auf die Unterschiede in "Ausmaß" und "Erscheinungsformen" lässt mich ahnen, dass er auf den völlig anderen Verlauf der jüdischen Diskriminierungsgeschichte ab 1933 und deren absolute Unvergleichbarkeit ab 1939 nicht mit dem nötigen Ernst aufmerksam gemacht hat.
Wie auch immer: Sen ist sich, wie Du schreibst, dieser Wahrnehmung durchaus bewusst und sagt zu Recht, dass er einen solchen Vergleich in einer deutschen Zeitung nie gezogen hätte. Ich finde auch: es gibt Dinge, die in Deutschland noch nicht vor einer breiteren Öffentlichkeit erörtert werden sollten. Einmal ganz abgesehen von Sens Naivität oder Bescheidenheit anzunehmen, sein Interview fände keinerlei Beachtung in Deutschland, ist mir nicht ganz einsichtig, inwiefern sein Vergleich einem türkischen Juden, dem er ja helfen wollte, nützlich sein konnte – angesichts des manifesten Antisemitismus in der türkischen Gesellschaft, der ja der Auslöser der ganzen Angelegenheit war.
Lieber Sergey, es geht mir weder um die Tabuisierung einer wichtigen Debatte noch um die Reduzierung des Antisemitismus auf seine eliminatorische Variante. Im Gegenteil: verstehe bitte meine Anmerkungen als einen Beitrag zu der von Dir angemahnten Debatte – motiviert durch unsere entschiedene Ablehnung von Antisemitismus und Türkenfeindlichkeit, die miteinander zu vergleichen sich gleichsam aufdrängt. Ein Vergleich zeichnet sich aus – wem sage ich das? – durch das Aufzeigen von Parallelen und Unterschieden.

Da ich mir, wie Du siehst, mit diesem Schreiben ein wenig Arbeit gemacht habe und weder uneitel noch unpolitisch bin, bitte ich Dich um Verständnis, dass ich drei Leuten eine Kopie habe zukommen lassen. Weiter beabsichtige ich, diesen Text auf meiner kleinen Vorstadt-Webseite zu bringen – selbstverständlich mit Hinweis (Link) auf Deinen taz-Kommentar, den ich freilich nicht bringen darf.

In der Hoffnung, dass dies unserer freundlichen und freundschaftlichen Korrespondenz keinen Abbruch tut, verbleibe ich

Mit lieben Grüßen
Werner

 

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