Gedanken zur deutschen Einheit

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Entschuldigen Sie bitte! Bevor Sie jetzt, vielleicht schon entnervt, fragen: „Mein Gott, wie viele Texte will er denn heute noch schreiben?!“, lassen Sie mich doch bitte kurz erklären! Bitte!

Danke! Also zunächst einmal: meine Vorfreude auf die Loveparade 2010 in Duisburg habe ich doch gar nicht heute aufgeschrieben, sondern bereits vor sieben Monaten. Das musste nur deshalb heute auf die Startseite, weil die Lokalpresse heute voll ist von diesem in Aussicht stehenden Mega-Event.
Nun ja, und dann dürfen Sie nicht vergessen, auf gar keinen Fall, dass wir heute den Tag der deutschen Einheit haben. Und da passt ja die Geschichte über den Antisemitismus in der Linkspartei heute ganz gut.
Oder nicht? Egal, früher konnte ich sie und dann wollte ich sie nicht bringen. Und ich finde wirklich, hier kommt ein Stück von der Geschichte nach der Wende zur Sprache. Aber über die Wende selbst habe ich noch nichts geschrieben. Ja was? Soll ich das auf morgen verschieben?
Das geht natürlich nicht. Es muss heute angemerkt werden, wie sehr sich mit der Wende zwar nicht alles, aber doch eben vieles zum Besseren gewandelt hat. Gerade auch hier im Westen, besser gesagt: in den alten Ländern.

Freiheit des Einzelnen

Stichwort: Freiheit des Einzelnen. Na so toll sah es hier damit auch nicht aus. Gerade ich habe dies häufig genug bitter erfahren müssen. Wie oft bin ich mit dem eigenwilligen Stil, mich zu kleiden, angeeckt. Es war kein Politkommissar, der da gemoppert hätte. Es gab auch keine Freundin, die heimlich als IM Dossiers über meine Klamotten angefertigt und an die Stasi weitergeleitet hätte. Es war viel, viel schlimmer.
So eine Stasi-Agentin hätte ich ja noch wegstecken können. Das wäre mir ja ohnehin erst nach der Wende aufgefallen, und dann wäre ja auch schon längst Schluss mit der Dame gewesen. So what? Arsch lecken.
Nein, hier im Kapitalismus hatte der durch die Profitmaximierungs- und Marketingstrategien ausgelöste Konsumterror die Individuen, auch die, die sich ansonsten als Gegner des Kapitalismus bezeichneten, derartig deformiert, dass … unglaublich, ich muss Ihnen das jetzt einmal, zwanzig Jahre später, erzählen.

Es geht, wie gesagt, um meinen nonkonformistischen Kleidungsstil. Ich beginne einmal wie Mario Barth: pass auf! Ist echt passiert. Kein Witz. Echt passiert. Pass auf! Begrüßt mich meine Freundin, also so vor gut zwanzig Jahren, sprich: vor der Wende, muss also heißen: begrüßte mich meine Freundin.
Jetzt pass auf! Mit den Worten, kein Witz, echt passiert. „Was hast Du Dir denn wieder angezogen. Du bist doch kein Opa!“ Jetzt einmal unter uns: das hätte sie doch besser in irgendeine Stasi-Akte schreiben können! Wäre mir echt am nackten Arsch vorbei gegangen. Aber so: diese Reduktion des Menschen auf sein Äußeres, dieser kapitalistische Markenterror, diese rücksichtlose Bereitschaft, gesellschaftliche „Normen“ (hier: westlich-dekadenter Mode-Firlefanz) in jeden Einzelnen hineinzuprügeln.

Hin und wieder entfloh ich damals diesem kapitalistischen Terror, um mich im ersten sozialistischen Vaterland auf deutschem Boden ein wenig zu erholen. Mir war klar, dass mir dort niemand mit „Du bist doch kein Opa!“ kommen würde. Sicher, im Buchladen noch nicht einmal das erste Buch angesehen, schon hieß es in bestem sächsisch: „Sie können auch gern in Ihrer Währung bezahlen!“ Sozialistische Kundenorientierung. Gut, dass ich hier mal endlich mit diesen antikommunistischen Ammenmärchen aufräumen kann. Die Verkäuferinnen seien so unfreundlich gewesen. Keine Spur! Ist echt passiert. Kein Witz. Echt passiert. Pass auf!
„Woran haben Sie denn so schnell erkannt, dass ich ein BRD-Bürger bin?“ stellte ich ganz freundlich die Gegenfrage. „Nun joa, die ganze Art eben.“ Wie gesagt: auf sächsisch. Ich blickte etwas ungeduldig. „Wie Sie sich bewegen, so schnell. Und wie Sie so gucken …“ Ich dachte mir, sag mal nix, und sagte: „ … und die Kleidung, vermutlich.“ Nee, meinte die Buchhändlerin, daran sei ihr nun nichts Besonderes aufgefallen. Da wusste ich: hier ist das bessere Deutschland. Meine allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit findet auch in meinem Kleidungsstil ihren Ausdruck.

Ende der Blockkonfrontation

Trotzdem: gut, dass mit diesem gefährlichen Ost-West-Quatsch Schluss ist. Wir alle haben uns verändert. Auch wir hier im Westen. Heute sagt das kein Mensch mehr zu mir: „Du bist doch kein Opa!“
Das war ja auch ein totaler Quatsch. Ich war damals kein Opa, ich bin heute kein Opa! Sozialistischer Realismus, bitteschön! Geht doch, und alles ohne Erziehungsdiktatur, Politbüro und dem ganzen Kram; einfach nur deshalb, weil dieser ganze Irrsinn ein Ende hatte. Endlich wurden die Menschen wieder normal.
Wenn man daran zurückdenkt, an die Systemkonkurrenz. Das war ja an Lächerlichkeit kaum zu überbieten, wie die jeweiligen Seiten ihre jeweiligen vermeintlichen Vorzüge meinten, herauspowern zu müssen.
Mit dem Ende der Blockkonfrontation ist alles irgendwie lockerer, ich möchte sagen: natürlicher geworden. Drüben labert keiner mehr: „Dafür haben wir aber keine Arbeitslosigkeit!“ Und hier quatscht mich kein Mensch mehr von der Seite an mit: „Du bist doch kein Opa!“

Bin ich auch nicht. Das können Sie schon allein daran sehen, dass ich Rockmusik höre. Immer noch. Auch die ganz aktuellen CDs. Von den gleichen Bands wie vor vierzig Jahren, und nicht so einen Techno-Scheiß. Ich bin der toleranteste Mensch, den Sie sich vorstellen können. Noch toleranter als Dr. Langner. Aber bei Loveparade, da hört es bei mir auf! Die ist nämlich voll kapitalistisch deformiert. Auf so was kann ich nun einmal nicht drauf!
Ich bin wirklich total tolerant. Jugendlicher Typ, etwas links und, um Westernhagen zu zitieren, mit meiner allseitig entwickelt sozialistischen Haltung, bin ich natürlich gegen die Spaltung.
Nun, das hätten wir. Jetzt können wir es uns eigentlich schön gemütlich machen. Und ich schreibe noch ganz viele von diesen schönen Texten. Mein Motto dabei: hier wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. Okay, manchmal will es auch nicht so richtig. Dann muss eben ein bisschen Power gegeben werden. Dann gilt (ist aber nicht mein Motto): was nicht passt, wird passend gemacht.
Worüber wollte ich eigentlich schreiben: ach ja, die Wiedervereinigung. Na, nun ist es dafür auch zu spät. Also nächstes Jahr am 3. Oktober. Da passt es auch besser. Sie wissen schon: nein, nicht Loveparade (die war dann schon), der runde Geburtstag. Ich freue mich jetzt schon.

Werner Jurga, 03.10.2009

 

[Jurga] [Home] [März 2010] [Marxloh stellt sich quer] [Februar 2010] [Januar 2010] [2009] [Dezember 2009] [November 2009] [Oktober 2009] [September 2009] [August 2009] [Juli 2009] [Juni 2009] [Mai 2009] [April 2009] [März 2009] [Februar 2009] [Januar 2009] [2008] [2007] [Kontakt]