Ich bin kein Liberaler

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Ich bin kein Liberaler. Dies ist für mich an und für sich keine Überraschung. Nur – aus Gründen, über die ich demnächst einmal nachdenken werde: mitunter kommt dieser – offenbar tief sitzende – Wunsch hoch, einer sein zu wollen. Ein Liberaler. Also nicht etwa: ein Neo-Liberaler. Dies wird mir hin und wieder attestiert, was mich erstens nicht weiter juckt, und was zweitens hier nicht das Thema ist.
Hier geht es um mein Geständnis: Ich bin kein Liberaler, oder verschärft formuliert: ich bin nicht liberal. Das ist möglicherweise nicht schön; aber es ist so, und es ist nicht zu ändern! Gestern ist mir dies wieder einmal sonnenklar geworden. Ausgerechnet gestern. 

Habermas und Dahrendorf

Gestern, als Jürgen Habermas 80 Jahre alt wurde, erreichte uns die Nachricht, dass Ralf Dahrendorf vorgestern verstorben ist. Es mag dahingestellt sein, ob nun Habermas auch als linksliberal bezeichnet werden könnte. Unstreitig ist dagegen, dass Dahrendorf ein Liberaler reinsten Wassers war. Er galt als der Liberale; im Rahmen meines sozialwissenschaftlichen Studiums wurde seine Klassenanalyse, besser: sein Schichtungsmodell ständig und ausführlich besprochen. Das Dahrendorfhäuschen.

Dahrendorf war, um es salopp zu formulieren, ein großer Liberaler.
In der aktuellen Ausgabe des Cicero finden sich Auszüge aus einer der oder gar der letzten Rede Dahrendorfs, überschrieben mit Die Revolution bleibt aus!
Ein sehr lesenswerter Text! Ich hätte ihn bereits vor zwei Wochen auf die Startseite dieser Homepage verlinkt; aber da war er noch nicht online. Nur um mich nicht dem Verdacht auszusetzen, mit ihm nach der Devise zu verfahren: Nur ein toter Liberaler ist ein guter Liberaler. Nein, so empfinde ich ganz gewiss nicht. Ich habe vielmehr Respekt vor einer liberalen Weltanschauung. Der Fluch Scheiß Liberaler ist mir höchstens drei- oder viermal im Laufe meines Lebens über die Lippen gekommen. Da war ich erstens emotional bewegt, und zweitens galt er Menschen, die ihre Feigheit hinter dem Mäntelchen des Liberalismus meinten verstecken zu können.
Das ändert nichts daran, dass ich den falschen Fluch „gewählt“ hatte. Im Zorn ist es mir hin und wieder nicht gelungen, eine Formulierung zu finden, die unzweifelhaft meine Respektlosigkeit auf den Gesprächspartner statt auf die Liberalen bezogen hätte. Ich denke, ich hatte meine Absicht nichtsdestotrotz „rüberbringen“ können – auch außerhalb des linken Milieus, was mindestens ebensoviel über dieses Land wie über mich erzählt.
Doch bei allem Respekt gegenüber echten Liberalen: ich bin halt keiner. Ich bin kein Liberaler.

Der Bundestag hat gestern Morgen einen Sitzungsmarathon begonnen, der zur Stunde möglicherweise noch andauert. Die FTD schreibt:
Von Donnerstagmorgen bis Freitagabend macht der Bundestag durch - zumindest laut Tagesordnung.
Was auch immer aus dieser ambitionierten Planung geworden sein mag, gestern jedenfalls hat das Parlament eine ganze Reihe von Gesetzen beschlossen. Derer zwei, die in der Berichterstattung den breitesten Raum einnehmen, waren es, die mir – wieder einmal – die Augen ins Selbst eröffnet haben, nämlich das sog. "Zugangserschwerungsgesetz", das Internet-Sperren gegen Webseiten mit Kinderpornographie vorsieht, und das Gesetz über die Patientenverfügungen, das die Selbstbestimmung im Sterbeprozess verbindlich vorschreibt.
Die Fernsehberichterstattung gestern Abend und der Blick durch den Blätterwald heute früh sorgten schnell für zwei – an und für sich – frohe Botschaften: a) Deutschland muss wohl ein sehr liberales Land sein, und b) ich vertrete Außenseiterpositionen.

Netzsperren gegen Kinderpornos
und die Freiheit als solche

Zu dem Gesetz über die Netzsperren hatte ich bereits vor gut sechs Wochen in einem Kommentar bei den Ruhrbaronen meinen Standpunkt dargelegt. Inzwischen ist aber die Protestbewegung gegen Zensursula so mächtig geworden, dass auch der ursprüngliche Gesetzentwurf, der in der Tat allenfalls Placebocharakter hatte, weiter verwässert worden ist. Es ist erreicht worden, dass das Stopp-Schild im Internet ignoriert werden kann und die Nutzer der Kinderporno-Seiten nicht registriert werden dürfen. Es lebe die Freiheit!
Nur ich kann immer noch nicht in den Kopf bekommen, warum ein Staat, der die freie politische Meinungsäußerung unterdrücken will, sich dabei aber auf keinen Fall ertappen lassen möchte. Genau dies wird von den Piraten und anderen mit dem Internet groß gewordenen Freigeistern aber unterstellt.
Gestern Abend ließ es sich ein angesehener Fernsehjournalist meiner Generation nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass seit einigen Tagen die Ereignisse im Iran belegten, wie wichtig die Freiheit im Internet sei. Glücklicherweise darf er gegenwärtig noch bei stattlicher Entlohnung seine liberalen Bedenken im öffentlich-rechtlichen Fernsehen unters Volk streuen. Doch bekanntlich stirbt die Freiheit scheibchenweise.
Kritische Internet-Blogger, bspw. bei den Ruhrbaronen, machen sich in den letzten Wochen einen Sport daraus, deutsche Regierungspolitiker zu entlarven, sehr wohl die Netzsperren-Infrastruktur zur Unterdrückung politischer Meinungsäußerungen benutzen zu wollen. Und da ich, um auf den Titel dieser Kolumne zurückzukommen, kein Liberaler bin, werde ich genau diese Politiker auch wählen. Ich finde es nämlich unerträglich, in welch übler Weise im Internet gegen Schwule, gegen Türken, gegen Juden und auch schon gegen Behinderte gehetzt wird. So etwas gehört nicht verboten; es ist verboten und gehört darum abgeschaltet.

Wer seinen Blick bei der Beurteilung politischer Entscheidungen auf technische Verfahren beschränkt, landet eben genau dort: beim Vergleich der ersten jämmerlichen Versuche im Kampf gegen das Kinderporno-Unwesen mit dem Teheraner Mullah-Regime.

 Selbstbestimmtes Sterben, oder:
Oma sein klein Häuschen

Was das Internet für die moderne liberale Elite, ist für das breite Volk das Sterben. Endlich gelten, darf man den Aufmachern in der pluralistisch-liberalen Medienwelt Glauben schenken, Freiheit und Menschenwürde auch an der Schwelle zum Tod. „Ich möchte nicht an Schläuchen hängen und hilflos Maschinen und Apparaten ausgeliefert sein“, spricht die eine oder der andere, die eine Patientenverfügung unterschrieben hatten und nun in Sorge waren, dass sich im Ernstfall wahrscheinlich kein Schwein dran hält.

Einmal ganz abgesehen davon, dass man bei jeder x-beliebigen Operation an Schläuchen hängt und hilflos Maschinen und Apparaten ausgeliefert ist, …
Stopp: hier kommt der Einwand, eine x-beliebige Operation sei doch nicht vergleichbar mit dem unvermeidlichen Sterben. Gut, das ist zweifelsohne richtig. Nur: der Einwand sticht trotzdem nicht. Denn der Bundestag hat die Verbindlichkeit der Patientenverfügung ausdrücklich nicht an einen in kurzer Zeit unvermeidlichen Tod als Voraussetzung gebunden. Im Gegenteil: die Angehörigen bzw. Betreuer können und dürfen von den Ärzten auch dann die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen einfordern, wenn das Ableben des Patienten noch gar nicht in Sicht ist.
Gewiss, das Volk will es so. Und ich will auch gar nicht in Abrede stellen, dass viele Abgeordnete, die gestern diesem Antrag zur großen Mehrheit verholfen hatten, ähnlich empfinden wie ihre Wähler. Ich wage allerdings zu bezweifeln, dass es zu dieser großen Mehrheit gekommen wäre, stünden nicht Bundestagswahlen vor der Tür. Und da wird sich jeder Abgeordnete, der wiedergewählt werden will, fragen lassen müssen, wie er gestern votiert hat. Mit einem Nein im Gepäck braucht man sich am Infostand erst gar nicht blicken zu lassen.

So werden sich künftig Ärzte irgendwelchen Patientenverfügungen konfrontiert sehen, die ihnen irgendwelche Angehörigen, vermutlich die lieben Kinder, vor die Nase halten, die ihnen freundlich, aber verbindlich erklären, dass sie jetzt Omas letzten Willen zu respektieren und die Patientenverfügung zu exekutieren haben. Denn Omas Leiden ist für die Kinder nicht mehr zu ertragen. Nun weiß niemand, wie die Patientenverfügung zustande gekommen ist; doch darf man davon ausgehen: wo eine Patientenverfügung ist, da gibt es auch ein Testament.
Wir brauchen nicht darüber zu spekulieren, in wie viel Prozent dieser Fälle künftig ökonomische Motive den Ausschlag für den zwar vorzeitigen, aber doch in Menschenwürde und Selbstbestimmung veranlassten Tod den Ausschlag gegeben haben. Denn mein Vertrauen in diesen Staat ist schwer zu erschüttern. Selbst wenn der Bundespräsident dieses Gesetz unterschreiben sollte, die Klippe in Karlsruhe wird es nicht nehmen.

Da bin ich mir ziemlich sicher; das macht das Bundesverfassungsgericht nicht mit. Gut so! Wo leben wir denn?!

Werner Jurga, 19.06.2009

 

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