Jürgen Habermas

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

 

 

Jürgen Habermas:
Schub in Richtung einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts

  

Der Sozialstaat ist eine späte und, wie wir erfahren, fragile Errungenschaft. Die expandierenden Märkte und Kommunikationsnetze hatten immer schon eine aufsprengende, für den einzelnen Bürger zugleich individualisierende und befreiende Kraft; darauf ist aber stets eine Reorganisation der alten Solidarverhältnisse in einem erweiterten institutionellen Rahmen erfolgt. Dieser Prozess hat in der frühen Moderne begonnen, als die hochmittelalterlichen Herrschaftsstände in den neuen Territorialstaaten schrittweise parlamentarisiert – Beispiel England – oder – Beispiel Frankreich – durch absolutistische Könige mediatisiert worden sind. Der Vorgang hat sich im Gefolge der Verfassungsrevolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts und der Sozialstaatsgesetzgebungen des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Diese rechtliche Zähmung des Leviathan und des Klassenantagonismus war keine einfache Sache. Aber aus denselben funktionalen Gründen weist die gelungene Konstitutionalisierung von Staat und Gesellschaft heute, nach dem weiteren Schub der wirtschaftlichen Globalisierung, in die Richtung einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts und der zerrissenen Weltgesellschaft.

Die USA werden aus der jetzigen Doppelkrise geschwächt hervorgehen. Aber sie bleiben einstweilen die liberale Supermacht und befinden sich in einer Lage, die es ihnen nahelegt, das neokonservative Selbstverständnis des paternalistischen Weltbeglückers gründlich zu revidieren. Der weltweite Export der eigenen Lebensform entsprang dem falschen, dem zentrierten Universalismus alter Reiche. Die Moderne zehrt demgegenüber von dem dezentrierten Universalismus der gleichen Achtung für jeden. Es liegt im eigenen Interesse der USA, nicht nur ihre kontraproduktive Einstellung gegenüber den Vereinten Nationen aufzugeben, sondern sich an die Spitze der Reformbewegung zu setzen. Historisch gesehen, bietet das Zusammentreffen von vier Faktoren – Supermacht, älteste Demokratie auf Erden, Amtsantritt eines, wie ich hoffe, liberalen und visionären Präsidenten sowie eine politische Kultur, in der normative Orientierungen einen bemerkenswerten Resonanzboden finden – eine unwahrscheinliche Konstellation. Amerika ist heute tief verunsichert durch das Scheitern des unilateralistischen Abenteuers, durch die Selbstzerstörung des Neoliberalismus und den Missbrauch seines exzeptionalistischen Bewusstseins. Warum sollte sich diese Nation nicht, wie so oft, wieder aufrappeln und versuchen, die konkurrierenden Großmächte von heute – die Weltmächte von morgen – rechtzeitig in eine internationale Ordnung einzubinden, die keine Supermacht mehr nötig hat? Warum sollte ein Präsident, der – aus einer Schicksalswahl hervorgegangen – im Inneren nur noch einen minimalen Handlungsspielraum vorfindet, nicht wenigstens außenpolitisch diese vernünftige Chance, diese Chance der Vernunft ergreifen wollen?

Ausschnitt aus Jürgen Habermas: Nach dem Bankrott, in: DIE ZEIT, 06.11.2008

http://www.zeit.de/2008/46/Habermas?page=all

 

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