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Kapitel 4: Die Zeit in den Natur- und in den Sozialwissenschaften
Dualismen durchziehen unsere Denktradition. Begriffspaare wie Leib und Seele, Natur und Mensch werden mitunter beinah antagonistisch verwendet. Die Notwendigkeiten der Abstraktion bei der Begriffsbildung werden oft genug bei der Anwendung der Begriffe nicht mehr gesehen. Dabei ist, daß es leiblose Seelen so wenig wie seelenlose Körper, die lebendig sind, geben kann, genauso bekannt wie die Tatsachen, daß die "Natur" nicht nur Wälder, Mondlandschaften und Robbenbabies entwickelt, sondern auch Menschen, und daß diese wiederum auf all ihren kulturellen Entwicklungsstufen doch nichts anderes sind als Natur, und daß die Entwicklungen der Natur in zunehmendem Maße auch menschengemacht sind.
"In unseren Tagen gilt es ... weithin als ein selbstverständliches Axiom, daß ‘Natur’ und ‘Gesellschaft’ existentiell voneinander geschieden sind. Das Problem der ‘Zeit’ wird entsprechend aufgespalten. Es scheint, als ob die physikalische Zeit etwas von der sozialen Zeit, auch der erlebten Zeit Getrenntes sei[1] ... Wie die Dinge liegen, ... ist es schwer, in einer Weise zu denken und zu sprechen, die nicht stillschweigend die Annahme impliziert, daß physikalische Zeit, biologische Zeit, soziale und erfahrungsbezogene Zeit zusammenhanglos nebeneinander stehen ... Wenn man `Zeit' untersucht, untersucht man Menschen in der Natur, nicht `Menschen' und `Natur' getrennt"[2].
Spätestens seit in den letzten Jahrzehnten die Beschäftigung mit dem Zeitthema zugenommen hat, erfaßt diese dualistische Tradition, wie könnte es anders sein, auch die Gedanken über die Zeit. Selbst Julius T. Fraser, der mit seinen eigenen Texten und mit der Initiierung der Internationalen Gesellschaft für Zeitforschung (ISST) die Interdisziplinarität hier kräftig weitergebracht hat, ist alles andere als frei davon; man beachte nur die Vielzahl der verschiedenen Zeitlichkeiten, die er meint, ausmachen zu können, und die er dann doch immer wieder auf den Zeitbegriff bringt. Es ist zwar richtig, daß (zumindest) jedes Lebewesen seine Eigenzeitlichkeit hat; insofern mag es nützlich und deshalb zulässig sein zu sagen, ein jedes Ding habe seine eigene Zeit. Das ändert nichts daran, daß ein Zeitbegriff ohne universale Dimension in sich nicht nur unnütz ist, sondern mit seinem Reduktionismus auch die eine Realität vernebelt.
Fraser ist Ingenieur und Philosoph; aber auch einige Sozialwissenschaftler halten es für eine "Tatsache, daß die physikalische Zeit nicht eine der menschlichen Interpretation unterliegende Anschauungskategorie ist"[3]. Dies ist aber keine "Tatsache", sondern eine in vielen Hinsichten unzutreffende Behauptung, die sich daher auch als sozialwissenschaftliche Anschauung nicht eignet. Es ist schon nicht einzusehen, warum eine offenkundig menschengemachte "Anschauungskategorie" nicht der menschlichen Interpretation zugänglich sein könnte. Doch ist klar, was gemeint ist: nämlich, daß es eine physikalische Zeit gebe, die unverbunden neben der menschlichen bzw. sozialen Zeit stehe. Dieser Dualismus übersieht, daß nicht nur ein beliebiger Mikrokosmos und das Universum, sondern auch alle Menschen ein physikalischer Prozeß sind. Vielleicht liegt dieser unzulässigen Teilung von Physik und Gesellschaftswissenschaften ein Distanzierungswunsch zugrunde, in diesem Fall also vom Zeitbegriff der Physiker. Aber die Konstatierung zweier Realitäten ist keine Distanzierung; sie indiziert eher eine Identifizierung, in jedem Fall ist sie unzutreffend. Der Physiker arbeitet in einer sozialen Wirklichkeit, die sich dem Sozialwissenschaftler kaum erhellen kann, wenn er von ihrer materiellen Basis abstrahiert.
Der Zeitbegriff selbst verändert sich - nicht zuletzt auch durch die Arbeit der Physiker. Dies ist zur Kenntnis zu nehmen, wenngleich einzuräumen ist, daß die jüngsten Ergebnisse der theoretischen Physik für Fachfremde mitunter schwer verständlich sind. Schon ihre Darstellung stößt an die Grenzen der Kompetenz eines Sozialwissenschaftlers; doch es ist ganz und gar unerläßlich, zumindest kurz auf die Impulse für die Entwicklung des Zeitbegriffs aus der Physik einzugehen.
4.1 Die absolute Zeit Newtons
Newton schrieb in seinen "mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie": "Die absolute, wahre mathematische Zeit fließt gleichmäßig an sich und ihrer Natur nach, ohne Beziehung auf irgend etwas Äußerliches". Die Zeit fließt hier zwar, was das mindeste ist; bräuchte sie doch andernfalls gar nicht erst definiert zu werden. Aber sie fließt ganz ausdrücklich ohne jede Relation zu irgend etwas, so daß die Newtonsche Zeit letztlich ebenso wenig fließt wie bei ihren schärfsten Kritikern, den Phänomenologen und Existenzialisten. Aus phänomenologischer Sicht sagt Alfred Schütz, neben Max Weber einer der Mitbegründer der „verstehenden Soziologie“, folgendes zum Zeitbegriff (in seinem Hauptwerk „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“): „Wir nehmen zum Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen den von Bergson aufgestellten Gegensatz zwischen dem schlichten Hinleben im Erlebnisstrom und dem Leben in der raum-zeitlichen begrifflichen Welt. Bergson stellt den inneren Dauerablauf, die durée, als kontinuierliches Werden und Entwerden prinzipiell mannigfaltiger Qualitäten der hemogenen, weil verräumlichten, diskontinuierlichen und quantifizierbaren Zeit gegenüber. In der 'reinen Dauer' gibt es kein Nebeneinander, kein Außereinander und keine Teilbarkeit, sondern nur eine Kontinuität des Verfließens, eine Folge von Zuständen des Bewußtseins. Aber auch die Rede von Zuständen ist inadäquat und bezieht sich auf Phänomene der raumzeitlichen Welt, in der allein es Beharrendes: Bilder, Wahrnehmungen, Objekte gibt. Was wir aber in der Dauer erleben, ist eben nicht Sein, ein Festabgegrenztes und Wohl-unterschiedenes, sondern ein stetiger Übergang von einem Jetzt und So zu einem neuen Jetzt und So. Der Bewußtseinsstrom der inneren Dauer ist prinzipiell unreflektiert: die Reflexion selbst gehört als Funktion des Intellekts bereits der Raum-Zeit-Welt an, in welcher wir uns im täglichen Leben bewegen.“[4] In der Interpretation Schütz’ fallen also in der phänomenologischen Sicht physikalische und soziale („reflexive“) Zeit zusammen. Raum und Zeit sind quantitativ-statische Größen, gleichsam Orientierungsraster der Erkenntnis, aber mehr auch nicht.
Die Bergson’sche „durée“, die Dauer, der „Bewußtseins-“ oder auch „Erlebnisstrom“ („stream of consciousness“) ist ein „präreflexives cogito“ (Sartre), und - unter gewissen Einschränkungen, auf die ich hier jedoch nicht näher eingehen kann - mit dem „zeitlosen“ Freud’schen Unbewußten gleichzusetzen, das nur Verschiebung, Verdichtung und „Intensitäten, aber keine Intentionen“ (Lyotard) kennt. Für eine Analyse der sozialen Zeit ist die phänomenologisch-lebensphilosophische Kategorie der "durée" also untauglich.
In diesem Sinne ist sie in wahrsten Wortsinne nur fixe Idee eines Fließens. Marx bemerkte dazu: "Die absolut gemachte Zeit ist nicht mehr zeitlich"[5].
Hinter dieser fixen Zeitidee verbirgt sich letztlich die philosophische Annahme, die Zeit könne es auch ohne Menschen geben. Es ist weiter oben dargelegt worden, daß Zeit die begriffliche Abbildung einer Synthese ist, zu der, soweit wir sehen, nur Menschen fähig sind. Es ist daher alles andere als eine folgenlose Wortspielerei, wenn Elias darauf insistiert, daß Zeit ein Begriff auf relativ hoher Synthesestufe, nicht Abstraktionsniveau, ist. Der Zeitbegriff abstrahiert nicht von der Geschehensabfolge, er leitet sich vielmehr daraus ab - mit der Redeweise vom Abstraktionsniveau wird die fixe Zeitidee assoziiert, die fälschlicherweise das Gegenteil aussagt.
Zwar bedarf die unablässige Ereignisfolge nicht unbedingt der Menschen; die Zeit jedoch ist gebunden an diejenigen, die diese Ereigniskette beobachten und bedenken. Die Definition der Zeit als eherne Konstante führt nicht nur in den Sozial-, sondern auch in den Naturwissenschaften auf Irrwege.
In den siebziger Jahren hat Rudolf Rost dieses Problem aus der Sicht eines Physikers diskutiert. Das "t" der Physiker stellt er infrage, was freilich eine nachdrückliche Dissidenz markiert. Auch wenn seine Veröffentlichung, die schon mit "Überwindung des Zeitbegriffs" überschrieben ist, insofern über das Ziel hinausschießt, weil der Zeitbegriff sich nicht nur der menschlichen Synthesefähigkeit verdankt, sondern sie gleichzeitig auch erst ermöglicht, hat sie m.E. zuwenig Beachtung gefunden. Er schreibt: "Die Wortverbindung `zeitloser Vorgang' ist kein Widerspruch in sich selbst. Ein Vorgang ist nicht an den Begriff Zeit gebunden. Er läßt sich auch ohne die Zeit exakt erfassen. Man braucht dazu nur die Begriffe Weg und Geschwindigkeit"[6].
Offensichtlich deckt sich diese Aussage nicht mit der Argumentation der vorliegenden Arbeit. Rost will den Zeitbegriff überwinden; er will nicht mit der Zeit, sondern mit anderem anfangen. Auf die Tatsache der Anfangslosigkeit ist bereits ausführlich aufmerksam gemacht worden. Nun wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn man mit dem Vorgang als solchem anfinge - wäre dies nicht eine Tautologie. Rost geht es um einen anderen Anfang in der physikalischen Vorgehensweise, nämlich ein konsequentes Setzen des Anfangspunktes im Beobachten statt im Nachdenken. Es ließe sich sagen: Rost denkt über einen radikalen Induktionismus bzw. Empirismus nach. Dies wäre nicht weiter beachtlich; mir ist wichtig, daß das Axiom "t" in einer physikalischen Abhandlung als dogmatisch gesetzt kritisiert wird.
An anderer Stelle heißt es: "Am Anfang steht aber nicht die Zeit, sondern der wahrnehmbare Vorgang. Wie man den Vorgang zeitlich seziert, ist ein ander Ding. Man kann dabei mit den beiden wahrnehmbaren Begriffen Weg und Geschwindigkeit auskommen - ohne Newtons fiktiven Begriff Zeit"[7]. Auch dem kann aus den genannten Gründen nicht voll und ganz zugestimmt werden, aber nochmal: Rost geht es um einen Diskussionsbeitrag zur theoretischen Physik!
Daß hier bereits vor mehr als zwanzig Jahren ganz eindeutig idealistische wie materialistische Annahmen zurückgewiesen wurden, markiert einen Schritt nach vorn. Die Zeit existiert bzw. fließt nicht für sich unabhängig von der Wandlungskontinuität der Realität. Rost spricht dies aus; er geht ein auf den Volksmund, auf die Fülle von Sprichwörtern, die der Zeit Subjektcharakter zuweisen: "Wer derartige Redensarten gebraucht - und das tun wir wohl alle - setzt im Stillen voraus, daß Entwicklung von der Zeit abhängt. Aber die Entwicklung ist nicht von der Zeit abhängig, vielmehr ist die Zeit ein Begriff, der aus Veränderung und Wesen der Dinge abstrahiert wird. Solche Redensarten sind nichts als mittelalterliche Relikte und stehen mit Newtons fiktiver absoluter Zeit auf gleicher Stufe"[8].
An dieser Stelle schlägt Rost vor, den Begriff "Zeit" durch "Entwicklung" zu ersetzen. In seiner Intention steht dieser Vorschlag im Einklang mit derjenigen dieser Arbeit; jedoch dürfen wir nicht vergessen, daß auch "die Entwicklung" nicht nur allmächtiges Subjekt, sondern selbstredend auch Resultat des unübersehbaren Beziehungsgeflechts sämtlicher physikalischer, biologischer und sozialer Prozesse ist. Ob es nützlich wäre, "die Entwicklung" als eine Gottheit zu betrachten, ist hier nicht zu erörtern; denn dies ist eine Frage der Weltanschauung oder eine theologische Frage. Da Antworten auf sie nicht überprüfbar sind, liegt sie außerhalb des wissenschaftlichen Kompetenz-bereichs. Auch Rost geht es nicht darum; ihm ist wichtig, den Zeitbegriff - den selbstgesetzten provokativen Anspruch auf "Überwindung" unfähig einzulösen - von seinem nicht zuletzt auch in den Naturwissenschaften zutage tretenden Mythengehalt zu befreien. Es gibt nicht einen Grund, der uns daran hindern könnte, uns Rost umstandslos anzuschließen, wenn er schreibt: "Die Zeit ist kein Begriff a priori. Man kann sie nur von der Bewegung abstrahieren. Im Gegensatz dazu ist die Geschwindigkeit unmittelbar mit den Sinnen wahrnehmbar; mit dem Auge beim Vergleich des Weges und dem sich darauf bewegenden Ding; mit dem Ohr z.B. an der Höhe des Tones, den der laufende Motor erzeugt. Wenn also die drei Begriffe Weg, Geschwindigkeit und Zeit miteinander in Beziehung gesetzt werden, dann ist die Zeit nur ein abgeleiteter, nicht aber unmittelbar durch Erfahrung erhaltener Begriff"[9].
Diese Selbstverständlichkeit darzulegen scheint notwendig zu sein, wird doch oft genug, wie Aveni feststellt, die Zeit behandelt "als sei sie etwas, das unabhängig von allem anderen in der Welt, einschließlich sogar meines eigenen Bewußtseins, existiert. Maxwell oder Einstein - überhaupt jeder Physiker, der etwas auf sich hält - würde sagen, die zeitliche Ordnung sei vorgegeben. Uns bliebe nur, sie zu erkennen und mit ihr umzugehen. Aber Zeit ist auch etwas Relatives ..."[10]. Obgleich Aveni unbestreitbar ein kompetenter Zeuge auf diesem Gebiet ist, erscheint mir sein Urteil als zu schroff formuliert. Es ist zwar richtig, daß in der modernen Physik an einer Determiniertheit - von wo auch immer - der Zeit festgehalten wird (Einstein bezeichnet die Zeit als "nicht beeinflußt"); deshalb dürfen jedoch nicht die Augen für die Fortschritte auf dem Weg zu einer realitätskongruenteren Definition des Zeitbegriffs verschlossen werden. Vielleicht ist die Zeit in der Physik noch "vorgegeben"; sie ist aber seit Einstein nicht mehr absolut. Die theoretische Physik hat sich vom Newton'schen Zeitbegriff wegentwickelt, ein Prozeß von einem beziehungslosen und im Grunde statischen zu einem mehr kombinierenden und prozeßhaften Zeitbegriff.
4.2 Die Zeit in der Relativitätstheorie
"Eine einzige absolute Zeit gibt es in der Relativitätstheorie nicht. Nach ihr hat jedes Individuum sein eigenes Zeitmaß, das davon abhängt, wo es sich befindet und wie es sich bewegt"[11], erklärt Hawking. Mit ihr - um Einstein selbst zu zitieren - "verlor die Zeit ihren absoluten Charakter und wurde der `räumlichen' Koordinaten als algebraisch (nahezu) gleichartige Bestimmungsgröße zugeordnet; der absolute Charakter der Zeit und im besonderen der Gleichzeitigkeit war zerstört und die vierdimensionale Beschreibung als einzig adäquate eingeführt"[12]. "Damit waren Raum und Zeit zwar nicht ihrer Realität entkleidet, wohl aber ihrer kausalen Absolutheit (beeinflussend, aber nicht beeinflußt), die ihnen Newton zuschreiben mußte, um den damals bekannten Gesetzen Ausdruck verleihen zu können"[13].
Damit hat Einstein die Entwicklung vom "absolutistischen" zum relativistischen "Weltbild" in für den physikalischen Laien verständlichen Worten zusammengefaßt. Noch prägnanter bringt dies Elias auf den Punkt, ohne sich eines jedoch ironisches Kommentars enthalten zu können, wenn er schreibt: "Die Geschichte der begrifflichen Wiedervereinigung von `Zeit' und `Raum', die in der Konzeption eines vierdimensionalen Universum bei Minkowski und Einstein gipfelt, ... läßt sich in verhältnismäßig einfacher Sprache ausdrücken: Jede Veränderung im `Raum' ist eine Veränderung in der `Zeit', jede Veränderung in der `Zeit' ist eine Veränderung im `Raum'. Man lasse sich nicht durch die Annahme irreführen, man könne `im Raum' stillsitzen, während `die Zeit' vergeht: man selbst ist es, der dabei älter wird"[14].
Man kann den Eindruck nicht verhehlen, daß Elias Ressentiments gegen Einsteins Weltbild hegt; denn an vielen Stellen seines Werks bringt Elias sein kritisches Verhältnis zu den Unzulänglichkeiten der Relativitätstheorie zum Ausdruck. Eine von ihnen ist bereits in der Einleitung zitiert worden, wobei er hier ausdrücklich auch Einsteins Verdienste auf dem Weg der Physik zu einem beträchtlich höherem Maß an Realitätskongruenz würdigt. Jedoch kann ein Wissenssoziologe nur schwerlich davon absehen, daß Einsteins Revolutionierung des wissenschaftlichen Weltbildes in keiner Weise an der jahrhundertealten Vorstellung gerüttelt hat, die die Mathematik sowie die Philosophie zu Grundwissenschaften (prima philosophia“) erklärt. Dieser Tradition zufolge fußt das Wissenschaftssystem auf Disziplinen, deren Grundlagen ihrerseits aus gesetzten Axiomen bestehen. Man meint, das Beschaffen von Wissen nehme seinen "Anfang" darin, daß fixe Lehrsätze - mathematische oder philosophische - als Basis des Denkens angeeignet würden. Offensichtlich wird die Biographie eines abendländischen Menschen - hier: der Wissenserwerb in einem Schulsystem bzw. durch von einem Schulsystem ausgebildeten Eltern -, nämlich die eigene Wissensgeschichte in die Wissensgeschichte der Menschheit schlechthin projiziert. Diese Projektion, oder wie Elias sich ausdrückt: dieses "Vergessen", führt zu dem Mißverständnis, den Ursprung bzw. Anfang des Wissens in Symbolen zu vermuten. Da diese abstrakten Symbole eine vermeintlich sichere Grundlage bilden, auf der sich in der Tat "gut stehen" läßt, leitet sich die abendländische Dogmatik von den beiden Symbolsystemen ab, die am "höchsten", besser: weitesten von der anfangslosen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit abstrahieren. Daß nach wie vor Mathematik und Philosophie weit verbreitet als "Grundwissenschaften" gelten, und nicht Soziologie, Biologie und Physik als Synthesen vielzähliger Abteilungen oder Fachdisziplinen, erschwert gegenwärtig den auf der Tagesordnung stehenden Schritt zur konsequenteren Hinwendung zur prozeßhaften Wirklichkeit. Auch vor ein realistischeres Bild dessen, was wir Zeit nennen, schiebt sich diese Denk- und Wissenschaftstradition wie ein Schleier.
Nicht zuletzt deshalb gelingt gegenwärtig Forschern wie Hawking auf seiner Suche nach der "Großen Einheitlichen Theorie" nicht der richtige Durchbruch. Dies zeigt, daß Einstein tiefere Schnitte in diesen Schleier nicht möglich waren; er ist mit seiner Epochenleistung bis an die Grenzen des zu seiner - und in dieser Hinsicht wohl auch noch unserer - Zeit Denkbaren gegangen. Es sieht so aus, als fiele die Aufgabe weiterer Grenzverschiebungen in den Kompetenzbereiche der Wissenschaften auf höherer Synthesestufe, und wohl zunächst in die biologischen Fächer. Einstein selbst hat sich jedoch nicht gescheut, die Realitätskongruenz auch seiner Arbeit in Frage zu stellen; er hat explizit darauf hingewiesen: "Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit"[15].
Inzwischen ist es zur Mode geworden, Begriffe aus der Relativitätstheorie zu verwenden, wohl um deutlich zu machen, daß man von einer Revolution des Weltbildes etwas gehört habe. Daß sich die hochgradige Kompliziertheit und Abstraktion der mathematisch-physikalischen Gedankengänge dem anschaulichen Verständnis weitgehend entziehen, verleiht freilich dem Benutzer von Termini wie "vierte Dimension" oder "Raum-Zeit" ein besonderes Flair. Daß derartiges Kokettieren mit der Relativitätstheorie ihre weitere Verbreitung, gar ihre partielle Integration in Alltagsbewußtsein und Weltanschauung vorantreibt, ist dagegen nicht umstandslos zu erwarten, was bspw. Wendorff als "gespenstisch"[16] wertet. Diese Empfindung mag man teilen; diesem Urteil muß man sich jedoch nicht anschließen. Wendorff selbst macht häufig genug darauf aufmerksam, daß kulturelle Innovationsprozesse gleich welchen Charakters in frühen Stadien von avantgardistischen Teilen gebildeter Schichten durch Prahlerei transportiert werden. Für ein tieferes Verständnis der Zeit wäre es jedenfalls von unbestreitbarem Nutzen, wenn wir die von der modernen Physik angestoßene Revolutionierung des Weltbildes stärker beachten und die Relativierung reibungsloser in unsere wissenschaftliche Arbeit integrieren könnten. Die Fähigkeit zur Synthese - neben der zur Analyse Voraussetzung menschlichen Erkennens - ist hier vornehmlich gefordert.
"Die Relativitätstheorie gehört zu den Prinziptheorien ... Diese bedienen sich nicht der synthetischen, sondern der analytischen Methode"[17]. Einstein selbst hat geahnt, und es hat ihn anscheinend auch beruhigt, daß sein Werk der festen und unflexiblen Struktur aus der mittelalterlichen Welt nicht radikal den Garaus gemacht hat, wenn er feststellt: "Mit der Erkenntnis der Relativität der Gleichzeitigkeit wurden Raum und Zeit in ähnlicher Weise zu einem einheitlichen Kontinuum verschmolzen, wie vorher die drei Dimensionen zu einem einheitlichen Kontinuum verschmolzen waren. Der physikalische Raum wurde so zu einem vierdimensionalen Raum ergänzt, der auch die zeitliche Dimension enthält. Der vierdimensionale Raum der speziellen Relativitätstheorie ist ebenso starr und absolut wie der Raum Newtons"[18].
Es ist genuine Aufgabe der Physiker, ihr Bild zu einem höheren Maß an Realitätskongruenz weiterzuentwickeln. Sie werden ihr jedoch nur dann gerecht werden können, wenn der Wissensfortschritt insgesamt den Boden dafür bereitet hat. So wie jedes "Wunderkind" immer auch "Kind seiner Zeit" ist, steht jede Teilwissenschaft, auch deren genialste Vertreter, in einem unauflöslichen dialektischen Zusammenhang zur wissenschaftlichen - und übrigens auch zur politisch-sozialen - Gesamtentwicklung. Konnte die theoretische Physik Anfang dieses Jahrhunderts mit Einsteins Relativitätstheorie dem gesamten Wissensprozeß entscheidende Anstöße geben, scheint sie sich gegenwärtig in einer Sackgasse zu befinden.
Cramer macht in seinem "Zeitbaum" darauf aufmerksam. Ihm zufolge "wirkt diese Philosophie des Absoluten, der Statik, bis in unsere Tage. Daraus leitet sich das leidenschaftliche Streben der klassischen und auch der modernen Physik ab, hinter der Veränderlichkeit das unveränderlich Bleibende zu erkennen und nachzuweisen, zu zeigen, daß überall dort, wo das unbefangene Denken Entstehen und Vergehen festzustellen glaubt, sich in gewissem Sinne doch nichts verändert hat. Diesem Streben dienen die Erhaltungsgesetze für Materie, für Impuls, für Energie, der 1. Hauptsatz der Thermodynamik und die Suche nach der Weltformel. Denn eine solche kann notwendigerweise nur statisch sein"[19].
"Einstein konnte sich nie für den Wahrscheinlichkeitscharakter der Quantentheorie erwärmen. Er wollte die physikalische Welt lieber als eine Welt mit wohldefinierten Ursachen, Orten und Augenblicken sehen, in der genau vorhersagbare Wirkungen möglich sind, und bemerkte einmal, Gott würfele nicht"[20]. Einsteins "Gott würfelt nicht" und Hawkings Suche nach der "Großen Einheitlichen Theorie" unterstellen die Unveränderlichkeit, "Ewigkeit" von Naturgesetzen. Hier regiert der Orientierungswunsch, daß der Wandel im festen Rahmen verlaufe, wenn nicht sogar "nach Plan". Tatsache ist, daß das anfangslose und unaufhörliche Veränderungskontinuum - trotz inzwischen milliardenfacher individueller Einzelpläne - als Ganzes planlos verläuft, allerdings gesetzmäßig. Schon deshalb ließe sich Einstein nicht entgegenhalten, Gott würfele doch. Abgesehen davon, daß Gottes Existenz als Glaubensfrage wissenschaftlicher Erörterung nicht zugänglich ist, unterstellt das Verb "würfeln" - und man kann nicht sagen, daß Einstein hier auf einen nicht existierenden "Popanz" einschlug - ein unberechenbares, weil prinzipiell nicht erkennbares Chaos. Die Angst davor erklärt das beharrliche Festhalten an der Idee des Unveränderlichen, das sich hinter allen Veränderungen verberge.
Naturgesetze sind - wie auch die Zeit - Symbole, die Menschen nach ihren Bedürfnissen entwickelt haben, d.h.: mit den Veränderungen menschlicher Bedürfnisse geraten die menschengeschaffenen Symbole unter Anpassungsdruck. Sie müssen den Wissenszuwachs widerspiegeln. Zwar hat sich das neue Wissen aus dem bislang Bekannten entwickelt, damit aber zugleich einige in die alten Regeln eingeflossene nicht gesicherte Annahmen falsifiziert. Viele Gesetze aus der Newton'schen Physik sind nach wie vor gültig, einige andere durch die relativistische Physik widerlegt. An dieser Stelle wäre der Hinweis berechtigt, daß sie auch schon damals objektiv falsch waren, „objektiv“ hier retrospektiv verstanden, d.h. nach heutigem Wissensstand; Newton hat natürlich aus seinem Wissensstand heraus ebenso „objektive“ Gesetze entwickelt. Dies ist ebenso sicher wie die Unfähigkeit, wissenschaftliche Aussagen über die Wandelbarkeit bzw. Nicht-Wandelbarkeit der auf gegenwärtiger Entwicklungsstufe aufgestellten Naturgesetze zu treffen. Die Behauptung, es gebe ewig gültige Naturgesetze ist nicht zu widerlegen; sie ist, weil nicht überprüfbar, nicht wissenschaftlich. Sie hat metaphysischen Charakter und beeinträchtigt, wie oben dargelegt wurde, den Wissensfortschritt.
Elias beleuchtet die Reliquien des mittelalterlichen Weltbildes von der anderen Seite, vielleicht auch nur aus etwas größerer Distanz. Er macht darauf aufmerksam, daß auch die theoretische Physik weiter auf dem Weg zu konsequentem Relativismus ist, wobei er eine stärkere Prozeßorientierung für die Physik - in bezug auf den Nutzen potentiellen Erkenntnisgewinns im eigenen Ausschnitt - für nicht so bedeutend erachtet wie bspw. für die Sozialwissenschaften: "Selbst in den physikalischen Wissenschaften tritt immer mehr die Notwendigkeit zutage, ein Modell der Evolution des Universums als Bezugsrahmen für Beobachtungen und Experimente zu benutzen, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit der Welt gemacht werden. Aber auf der Ebene des unbelebten Naturgeschehens ist dieser Bezug auf ein Modell der kosmischen Evolution nicht so dringlich, weil das Tempo der physikalischen Evolution verglichen mit der Entwicklung menschlicher Gesellschaften außerordentlich langsam ist"[21]. Dies bedeutet aber eben auch, daß auf verschiedenen Stufen der physikalischen Evolution, zu verschiedenen Zeiten im Sinne einer linearen Langfristentwicklung verschiedene Naturgesetze gelten, selbst wenn von den "Gesetzgebern", nämlich den beobachtenden und denkenden Menschen abstrahiert wird, wovon jedoch nicht abstrahiert werden kann. "Der Kosmos ist ein Prozeß, und es gibt nichts, was nicht prozessual wäre. Alle Ruhepunkte, alle Haltepunkte sind nur scheinbar"[22].
"Im Weltverständnis der modernen Physik hat das `Naturgesetz´ seinen klassisch dogmatischen Charakter längst gewandelt. `Naturgesetzlichkeit' bedeutet für den Physiker heute die statistisch gesicherte Vorhersagbarkeit bestimmter Aspekte des Verhaltens natürlicher Objekte. Die Nuance mag manchem im ersten Augenblick spitzfindig erscheinen. Im makrophysikalischen Bereich (innerhalb `mesokosmischer´ Dimensionen) ändert sich mit der `Neufassung´ grundsätzlich auch nichts. Hinsichtlich unserer Natur- und Weltverständnisses bedeutet sie allerdings eine grundlegende Neuorientierung"[23], schreibt Hoimar von Ditfurth in seinem Buch "So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen". Allerdings ist es nicht nur der dem Titel gerecht werdende Zukunftspessimismus, der mich daran hindert, mich ihm im wesentlichen anzuschließen. Zwar ist von Ditfurths Kritik am statisch-mechanistischen Weltbild der klassischen Physik zuzustimmen. Darauf baut er jedoch einen Anti-Determinismus als Einstieg in einen Anti-Materialismus auf, woraus nahtlos ein Idealismus wird, der sich nicht zuletzt in einem ausführlichen und nachhaltigen Beharren auf der dualistischen Denktradition äußert. Damit steht seine Position der hier vertretenen Argumentation deutlich genug gegenüber.
Immerhin hat von Ditfurth eine interessierte, aber doch breitere Öffentlichkeit mit einem "Natur- und Weltverständnis" vertraut gemacht, das vom Mythos der "fixen" Naturgesetze befreit ist. Es ist anzunehmen, daß es auf höhere Akzeptanz trifft, wenn - statt bspw. eines Geistes- oder Politikwissenschaftlers - ein zumal noch beliebter Naturwissenschaftler mit einem Wissenschaftsbegriff aufräumt, der häufig genug von den Apologeten schematischer Erklärungen eines starren Weltbildes mit dem Prädikat der "exakten Wissenschaft" ideologisch verklärt wurde. Es kann jedoch keine Rede davon sein, daß Ditfurths Reduktion der Erkenntnismöglichkeit bzw. der Prognosefähigkeit auf eine "statistisch gesicherte Vorhersagbarkeit bestimmter Aspekte des Verhaltens natürlicher Objekte" bei allen Naturwissenschaftlern oder gar darüber hinaus auf Zustimmung stieße.
Eine populärwissenschaftliche Einführung in die Physik beginnt auch heutzutage - unbeirrt von Zweifeln - mit dem ersten Satz: "Alle Vorgänge in der unbelebten Natur laufen nach ewig gültigen, einfachen Gesetzen ab"[24]. 250 Seiten weiter heißt es hingegen bzw. gerade deshalb: "Daß in der Physik der kleinsten Teilchen Vorgänge nur noch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit beschrieben und berechnet werden können, macht die heutige Quantenphysik recht schwierig und unverständlich"[25].
4.3 Die Zeit in der Quantenmechanik
In den Quantenmechanik[26] ergeben sich erstaunliche Parallelen zur Theorie der offenen hierarchischen Systeme Koestlers, zur "allgemeinen Zeittheorie" Cramers oder zur Einteilung der Wissenschaften Elias'. Vom kleinen "Unten" oder vom großen "Oben" aus in den Blick genommen, ergibt sich die entscheidende Funktion des mit Bewußtsein ausgestatteten Beobachters. Inhalt und Entstehungsgeschichte der Unschärferelation, auf die die bereits angesprochenen Erschütterungen der klassischen, auch der relativistischen Physik im Kern zurückzuführen sind, werden bspw. in Hawkings "kurzer Geschichte der Zeit" in auch für den Laien verständlicher Form dargelegt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die von Heisenberg auf Basis der Planckschen Konstante entdeckte Unschärferelation besagt, daß niemals Ort, Masse und Geschwindigkeit eines Teilchens gleichzeitig exakt bestimmt werden können.
Hawking kommentiert dazu: "Die Unschärferelation hat weitreichende Folgen für unsere Sicht der Welt. Selbst heute, fünfzig Jahre nach ihrer Formulierung, haben viele Philosophen diese Konsequenzen noch nicht in ihrer vollen Bedeutung erfaßt, und sie sind nach wie vor Gegenstand heftiger Kontroversen. Die Unschärferelation bereitete dem Leplaceschen Traum von einem absolut deterministischen Modell des Universums ein jähes Ende: Man kann künftige Ereignisse nicht exakt voraussagen, wenn man noch nicht einmal in der Lage ist, den gegenwärtigen Zustand des Universums exakt zu messen!"[27] Hawking bestätigt mit seinem Ungehaltensein über die Philosophen ausdrücklich eine Bemerkung Elias', diese seien traditionell die "Dolmetscher der Physiker". Andererseits - oder vielleicht erklärt sich sein Ungehaltensein gerade daraus - wird an verschiedenen Stellen des Buches Hawkings Erwartungshaltung an Erkenntnisfortschritte der Philosophen deutlich, freilich ohne daß er ausspricht, daß auch umgekehrt Entwicklungen in den komplexeren Wissenschaften höherer Synthesestufe ihrerseits den Boden für Erkenntnisfortschritte bei der Erforschung der unbelebten Natur bereiten. Er weiß dies auch nicht, bräche doch andernfalls sein unerfüllbarer Traum von der Entwicklung der Großen Einheitlichen Theorie auf der Stelle zusammen.
Hawking ist zuzustimmen darin, daß "man ... künftige Ereignisse nicht exakt voraussagen (kann)"; "exaktes" Wissen über ein Ereignis hat man, wenn überhaupt, sowieso immer erst hinterher. Dies ist - und hier greift der Anspruch des Terminus' - ein Gesetz, allgemeingültig auf den Ebenen der Physik, der Biologie und der Sozialwissenschaften; andernfalls wäre der Begriff der Zeit in sich sinnlos. Die Tatsache, daß man alles genau, wenn überhaupt, allenfalls hinterher, nicht aber vorher weiß, darf als gesichert betrachtet werden, wohl nicht erst seit der Planck/Heisenbergschen Unschärferelation, gewiß aber auch dann noch, wenn die Quantenphysik sich in Richtung stärkerer Prozeßorientierung weiterentwickelt haben wird. Dieses formale Paradoxon scheue ich - auch angesichts der sicheren Erkenntnis, daß "alles relativ" ist - nicht. Vielmehr erscheint es mir als ein wenig sachlich paradox, wenn sich Hawking ausgerechnet von einer intensiveren "Verzeitlichung" der Physik die Rehabilitierung deterministischer Sicherheit inklusive der Sehnsucht nach prophetischen Gaben verspricht. Aber wenn einmal von der unzulässigen Gleichsetzung sicheren Tatsachenwissens und verläßlicher Prognosen abgesehen wird, läßt sich nicht abstreiten, daß seine auf dem Gebiet der Quantenmechanik "gekommene" Idee zur weiteren Überwindung statischer Elemente bahnbrechendes Potential für eine weitaus konsequentere Prozeßorientierung, wenn nicht für die nächste Revolution des wissenschaftlichen Weltbildes aufweist. Das Unbehagen an der Unschärferelation brachte Hawking auf den Gedanken, den - in der Tat statisch anmutenden - Begriff des Teilchens infrage zu stellen. Er schreibt: "Das unvorhersagbare Zufallselement kommt nur dann ins Spiel, wenn wir versuchen, die Welle in Hinblick auf die Positionen und Geschwindigkeiten der Teilchen zu interpretieren. Aber vielleicht ist das unser Fehler: Vielleicht gibt es keine Teilchenpositionen und -geschwindigkeiten, sondern nur Wellen. Mag sein, daß wir lediglich versuchen, die Wellen in unser vorgefaßtes Schema von Positionen und Geschwindigkeiten hineinzuzwingen. Das daraus resultierende Mißverhältnis wäre die Ursache der scheinbaren Unvorhersehbarkeit"[28].
Die "Unvorhersehbarkeit" bliebe letztlich auch in diesem Fall - wenn auch mit geringerem Gewicht - erhalten., aber es öffneten sich neue Pforten zu sicherem Wissen in der - wenngleich niemals "exakt" umfassend erfahrbaren - prinzipiell erkennbaren Welt.
Zukunft, wie gesagt, ist prinzipiell nicht "exakt" vorhersagbar; nur im Mythos vom "ehernen Naturgesetz", vom Unwandelbaren hinter allem Wandel. Der Zwang zur Planung, also unser Angewiesensein auf Zukunftsprognosen, verleiht im Verein mit unserem Wunsch nach Sicherheit der fixen Idee einer festen Naturordnung permanent - wenngleich keineswegs neue - Attraktivität. Die Idee durchkreuzt ihr Motiv; denn da es nicht um Planungssicherheit, sondern "nur" um die Erhöhung der Validität von Wahrscheinlichkeiten gehen kann, m.a.W. um relativ höhere Prognosezuverlässigkeit, ist die Abwendung vom Mythos, in diesem Fall den vom an sich geordneten Naturzustand, geboten. Dahin drängt auch - ergänzend zur Relativitätstheorie - die Quantenmechanik, schon ohne ihre von Hawking ins Auge gefaßte Öffnung zu stärkerer Prozeßorientierung.
Ich zitiere aus einem in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift erschienenen Artikel des Physikers Davies: "In den siebziger Jahren wurde eine ganze Serie von Experimenten (zur Unschärferelation, W.J.) vorgenommen. Den krönenden Abschluß bildete ein sorgfältiger Test, den Alain Aspect (Universität Paris) 1982 mit der Bellschen Ungleichung vornahm. Die Ergebnisse zeigten schlüssig: Einstein hatte nicht recht. Holen wir tief Luft, und fragen wir uns, was bedeutet das?
Es bedeutet zunächst einmal, daß das Chaos in der Quantenwelt nicht aus einem tieferen Grund geordneter Kausalität entspringen kann. Es gibt in der Natur eine quasi angeborene, nicht besiegbare Ungewißheit, aber das Experiment von Alain Aspect hat noch weiterreichende Konsequenzen. Es zwingt uns nämlich, uns mit einem alten Paradox der Quantenmechanik zu befassen, das die Natur des Beobachtens betrifft"[29]. Mit diesem "Paradox" bzw., wie er sich weiter unten ausdrückt, "Dilemma" meint Davies folgendes:
"Jedes System in der Quantenwelt kann durch Messen in einen Zustand der exakten Gewißheit übergeführt werden. Aber in diesem Fall geht die Ungewißheit auf das größere System über. Wenn es weitergehen soll, muß dieses durch ein noch größeres System wieder `exakt' gemacht werden - undsoweiter, undsoweiter.
Es hat schon eine ganze Reihe von Vorschlägen gegeben, die aus dem Dilemma herausführen sollten. Nach dem Standpunkt einer Gruppe ist es notwendig, das Konzept des Bewußtseins einzuführen. Die Kette der immer neuen Unschärfen würde dann enden, wenn das Meßergebnis in jemandes Bewußtsein tritt. Das bringt uns zu dem Problem, daß wir eine Entscheidung treffen müssen, wo und bei wem das Bewußtsein beginnt"[30].
Mit dem letzten Satz hat der Quantenphysiker ein "Problem" konstruiert, das sich im Grunde nicht stellen müßte. Es resultiert aus der Annahme, daß der mit Bewußtsein ausgestattete Mensch niemals anders könne, als auf der nach oben führenden "Wendeltreppe" (Elias) irgendwo, besser: irgendwann stehenzubleiben, als das Klettern auf dem "Zeitbaum" (Cramer) irgendwo abzubrechen, als die "offenen hierarchischen Systeme" (Koestler) grundsätzlich nur bis zur einer bestimmten Höhe in den Blick zu bekommen. In diesem Fall stellten die von Davies referierten quantenphysikalischen Ergebnisse in der Tat ein "Paradoxon" oder "Dilemma" dar. Doch da sichere Aussagen über die Zukunft prinzipiell unmöglich sind, ist es weder möglich noch zweckmäßig und wohl auch unzulässig, eine Grenze menschlicher Erkenntnis zu benennen. Die Fähigkeit zur Synthese ist, um von Davies benutzte Begriffe aufzugreifen, bei Menschen "quasi angeboren", und damit ihre "nicht besiegbare Ungewißheit", die sie auf immer höhere Synthesestufen treibt.
Dieses Problem der Unabschließbarkeit offener hierarchischer Systeme gibt es in der „klassischen“ geisteswissenschaftlichen Hermeneutik im Prinzip schon seit Schleiermacher; Gadamer hat das Problem der Unabschließbarkeit der Reflexionsstufen dann endgültig auf den Begriff gebracht (u.a. in seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“). Das Dilemma des „hermeneutischen Zirkels“ oder des „unendlichen Regresses“ ist durch die Quantenmechanik dann auch in die Naturwissenschaften eingedrungen (im logischen Positivismus und in der formalen Logik, von Frege bis Russell, ist das Problem ebenfalls schon seit längerem bekannt, aber die endgültige „Initialzündung“ ging in der theoretischen Physik zweifellos von der Quantenmechanik aus). Erkenntnistheoretisch betrachtet, ist der „unendliche Regreß“ der Erkenntnis kein „Problem“, das abschließend zu „lösen“ wäre, sondern überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Erkennens.
Davies, fasziniert von der Funktionstüchtigkeit, von der, wie er sich ausdrückt, "Struktur" des Universums, wird von seinen Ungewißheiten auf relativ hohem Wissensniveau an den Rande von Metaphysik und Teleologie getrieben, obgleich er sehr wohl weiß, daß der - hier: physikalische - Evolutionsprozeß erst a posteriori als a priori geplant erscheinen kann, wenn Beobachter zu seinen ungeplanten Resultaten gehören. Er ist der "Überzeugung, daß die Struktur des Universums, das wir wahrnehmen, auch für geringe Veränderungen der natürlichen Voraussetzungen hochempfindlich ist. Man hat den Eindruck, als ob die hochentwickelte Ordnung des Kosmos das Ergebnis einer ungemein sorgfältigen `Feineinstellung' wäre. Dieses ... bestärkt die Menschen in ihrem Glauben an einen Schöpfer oder Planer. Andere jedoch verweisen auf die Theorie von den vielen Universen als Erklärung der `glücklichen Zufälle' im Kosmos ... denn nur in einem Kosmos, in dem alle notwendigen Bedingungen vorhanden sind, wird es Menschen geben, die sich dann über diesen `glücklichen Zufall' Gedanken machen"[31]. Um nicht in der unbefriedigenden Erklärung eines "glücklichen Zufalls" stecken zu bleiben, bedarf es aber keiner "Theorie von den vielen Universen". Schon ihr gekünstelt klingender Begriff zeigt hinreichend an, daß eine zufriedenstellende Prozeßtheorie nicht in Aussicht steht. Stattdessen sollte man sich für den Gedanken der notwendigen Bedingungen öffnen, deren jeweilige Notwendigkeiten sich erst hinterher den Beobachtern offenbaren (können) oder eben nicht.
In der Regel wird in der Astrophysik sinnvollerweise von einem Universum gesprochen. Dessen Unendlichkeit gilt als allgemein anerkannt; aber häufig genug wird hinzugefügt, daß es in dieser Unendlichkeit nichtsdestotrotz endlich sei. Da dies für uns Laien nur schwer vorstellbar sei - in der Tat! -, wird als didaktische Hilfe das Bild von der in sich gekrümmten Acht bemüht. Weiter gilt als astrophysikalische Erkenntnis, daß sich die Expansion des unendlichen Universums unabhängig vom Punkt des Betrachters in alle Richtungen in symmetrischer Struktur vollziehe. Mitunter wird - wohl der Einfachheit halber - auf den Prozeßgedanken komplett verzichtet und schlicht behauptet, das Universum sei überall gleich aufgebaut (was übrigens schon rein sprachlich der Ausdruck Uni-versum suggeriert).
Es ist an der Zeit, das Bild von der Natur, das von jeher stark von Symmetrien geprägt ist, auch in dieser Hinsicht zu relativieren. Denn in der Elementarteilchenphysik wie in der Biologie gibt es eine Reihe von Phänomenen, die durchaus asymmetrisch sind. In seinem Buch über "die wunderbare Händigkeit der Moleküle"[32] macht der Elementarteilchenphysiker Dieter Rein auf die Bedeutung der molekularen Asymmetrien für den Evolutionsprozeß aufmerksam. Louis Pasteur hat sie noch als "Demarkationslinie zwischen belebter und unbelebter Natur" bezeichnet. Heute sei als gesichert anzusehen, daß die ersten zur Selbstvermehrung fähigen Moleküle aus einem Substrat hoher "händiger" Reinheit auf die erforderliche Länge gewachsen sind. Hier liege der Schlüssel zur Antwort auf die Fragen nach dem Ursprung, dem Wie und Wohin des Evolutionsprozesses. Wie auch immer: eine "Demarkationslinie zwischen der Physik und der Biologie" erscheint ebenso konstruiert wie das von Symmetrien geprägte Naturverständnis. In diesem Wissenschaftsausschnitt, nämlich dem der Molekularphysik und -biologie, sind m.E. als nächstes kräftige Anreicherungen des Zeitbegriffs zu erwarten - im Zuge des erwarteten neuen Wissens über die Entstehung des Lebens.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: es ging nicht darum, die naturwissenschaftliche Forschung zu bewerten, sondern sie als Fortschritt im Rahmen eines anfangs- und hier vor allem endlosen Prozesses darzustellen. Gerade die Physiker haben den Mythos vom Anfang und Ende, von einem diese letztlich als Unveränderlichkeit zu verstehende Statik repräsentierenden Schöpfer wie kein anderer Wissenschaftszweig "gejagt". Möglicherweise ist es nicht ihre, oder sie verstehen es nicht als ihre Aufgabe, ihn zu "erlegen"; ihr Beitrag zum Prozeß der Überwindung eines ego- bzw. soziozentrischen Weltbildes, eines zwar teleologischen, aber doch auch noch zyklischen Zeitbegriffs ist nicht zu unterschätzen. Aveni zieht folgende Zwischenbilanz: "Befreit man den Schöpfungsmythos des 20. Jahrhunderts von allen Details und allem mathematischen Jargon, so bleibt allerdings eine Hauptdifferenz zu den Schöpfungsmythen der Vergangenheit: seine Ziellosigkeit. Wir Menschen spielen in ihm absolut keine Rolle"[33]. Dies markiert einen kaum zu unterschätzenden Fortschritt in der Weiterentwicklung des Zeitbewußtseins. Konnte sich im Rahmen mythischen Empfindens der lineare Zeitbegriff erst mit der Entwicklung religiöser Vorstellungen vom Anfang und Ende entwickeln, stößt er jetzt auf eben diese Grenzen, die vor langer Zeit seine Entstehung erst möglich machten. Das angeführte Aveni-Zitat führt zweierlei vor Augen: wenn auch das anfangslose Denken noch nicht an Boden gewonnen hat, so ist die Fixierung auf ein Ende - zumindest in weiten Bereichen der Wissenschaft - faktisch gefallen.
Schon diese Abwendung von der Teleologie ermöglichte ein kräftig gestiegenes Maß an Prozeßorientierung. Um bei der Physik zu bleiben: gerade mit der Negation eines Telos geriet neben der Entwicklung auch ihre Richtung ins Blickfeld. Man fand "Belege" für den bereits von Denkern engagiert diskutierten Zeitpfeil. Als ein, wenn nicht als der Beweis für die irreversible Zeitlichkeit gilt in den Naturwissenschaften die Entropie. "Der von Carnot und R. E. Claudius gefundene und von Lord Kelvin im Gültigkeitsbereich erweiterte zweite Hauptsatz der Thermodynamik, auch Entropieprinzip genannt, besagt, daß Wärme nicht von selbst von einem kälteren in einen wärmeren Körper übergehen könne - anders formuliert auch, daß Wärme nie restlos in Arbeit zurückverwandelt werden kann. Bei jedem energetischen Umwandlungsprozeß geht ein Teil der dabei auftretenden Wärme endgültig verloren. Das gibt den Naturvorgängen eine bis dahin nicht so gesehene einseitige Zeitrichtung oder im Sinne eines anderen gebräuchlichen Ausdrucks Irreversibilität"[34].
4.4 Zeitbegriff und Interdisziplinarität
Mit der Integration der Irreversibilität der Zeit in die theoretische Physik kann immerhin berücksichtigt werden, daß die Zeit - und deren Gerichtetheit als Merkmal des Verstehens von Zeit unauflöslich an denkende und handelnde Subjekte, nämlich Menschen, gebunden ist[35].
So wie der Entwicklungsprozeß der "Schöpfung" nur unter vollständiger Abstraktion von Menschen realitätsgerecht zu erfassen ist, so gilt für die Zeit das Gegenteil: sie ist nur denkbar durch Menschen. Dux hat recht, wenn er schreibt: "Zeit ist diejenige kognitive Organisation, mit der wir in der Dauer des Universums dessen Wechsel erfassen"[36]. Mit der Entwicklung der menschlichen Handlungskompetenz und der durch die Zeit symbolisierten Entwicklung der Interaktions-kompetenz nimmt der humane Einfluß auf das Universum, jedenfalls auf die expandierende "Welt" des Menschen so weit zu, so daß bezogen auf die Reproduktion der Natur, den unaufhörlichen Fortgang der "Schöpfung" von ihm nicht mehr abstrahiert werden kann. Weiter führt Dux über die Zeit aus: "Im Fortschritt der Entwicklung der Interaktionskompetenz wird sie von der einzelnen Handlung abgelöst und das Medium aller überhaupt interaktiven Geschehnisse, schließlich Weltzeit. Der Entwicklungsprozeß erhält gerade durch die Entwicklung der Zeit eine strukturlogische Einheit, die von größter Bedeutung ist, wenn man die ontogenetische Entwicklung, aber auch die historische verstehen will: über die Entwicklung der Interaktionskompetenz wird eine Tiefendimension geschaffen, in der das Subjekt sich von der Welt ablöst und sie auf sich konvergieren läßt"[37]. Dem wäre im Grunde voll und ganz zuzustimmen, wäre da nicht die "strukturlogische Einheit", die hier die historisch-genetische Theorie an den Entwicklungsprozeß klebt. Es mag zwar nützlich sein, über eine Logik der Zeit nachzudenken; es kann aber keine Rede davon sein, daß die Zeit der einheitlichen Evolution eine Logik zukommen lasse. Daß die Handlungsstrukturtheorie auf den Strukturbegriff nicht verzichten mag, liegt auf der Hand; und doch oder gerade deshalb paßt er nicht in die Wissenssoziologie, wirkt er in jeder konsequent prozeßorientierten Wissenschaft als Fremdkörper. Cramer geht so weit zu sagen: "Struktur heißt in sich zurücklaufende Zeit, heißt Zyklizität, heißt Stabilität"[38]. Dux hatte ausdrücklich die entgegengesetzte Absicht, als er den - auch von Elias für bedenklich befundenen - Strukturbegriff an den Entwicklungsprozeß anheftete. Ihm geht es um dessen Irreversibilität der Zeit, die durch menschliches Denken und Handeln produziert und reproduziert wird.
Schaltenbrand drückt dies so aus: "Der Zeitpfeil entsteht also durch unsere bewußte Interpretation ... der Verwirklichung von sich bildenden Gestalten, welche das zu ihrer Existenz notwendige Material ordnen und entwickeln. Hierbei handelt es sich um schöpferische Ereignisse, die sich nach einem Zukunftsziel richten. Sie organisieren die Gegenwart und vermehren die Ordnung. Demgegenüber stehen jene Ereignisse, bei denen Gestalten zerfallen und verlorengehen. Dieser Weg führt in die Vergangenheit, er bedeutet Tod und Unordnung"[39]. Insofern ließe sich sagen, daß das Leben dem Entropieprinzip entgegenwirkt, gewiß jedoch das humane. Freilich ist - auch dies hat Schaltenbrand formuliert - menschliches Leben als Teil der Natur letztlich unabdingbar der Entropie unterworfen. Doch Vitalität resultiert aus schöpferischen Handlungen, die sich einer Orientierung an der Zukunft verdanken.
Eine ganz andere Bewertung der Zukunftsorientierung findet sich bei Beck, dessen Buch "Risikogesellschaft" auf große Aufmerksamkeit und Zustimmung weit über den Kreis der deutschen Sozialwissenschaftler hinaus gestoßen ist. Hier heißt es: "Das Zentrum des Risikobewußtseins liegt nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft. In der Risikogesellschaft verliert die Vergangenheit die Determinationskraft für die Gegenwart. An ihre Stelle tritt die Zukunft, damit aber etwas Nichtexistentes, Konstruiertes, Fiktives als `Ursache' des gegenwärtigen Erlebens und Handelns. Wir werden heute aktiv, um die Probleme oder Krisen von morgen oder übermorgen zu verhindern, abzumildern, Vorsorge zu leisten - oder eben gerade nicht"[40]. Es kann hier nicht darum gehen, die politische Streitschrift "Risikogesellschaft" zu diskutieren; es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß Becks Soziologie, die als beispielhaft für eine zeitgenössische kulturelle Strömung gelten kann, dämpfend auf das Zeitbewußtsein, und damit auf die menschliche Handlungskompetenz wirkt. So wie die Handlungsfähigkeit aus dem Ganzen der Vergangenheit resultiert, so ermöglicht erst die Antizipation von Zukunft die Handlungsbereitschaft. Die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft, nämlich die Zeit, macht erst die bewußte Handlung möglich, die ihrerseits damit Zeitbegriff und -bewußtsein weiterentwickelt. Zu formulieren, daß "die Vergangenheit die Determinationskraft für die Gegenwart" habe oder gar: haben solle, weist uns, vermeintlich ohnmächtig, eine folglich wenig gestalterische, passive Rolle zu. Diesen Eindruck finde ich im ganzen Buch durchgängig bestätigt. Dazu muß gesagt werden: Beck geht es auch gar nicht um eine Klärung des Zeitbegriffs, um eine Erweiterung des Zeitbewußtseins oder um das Wecken gestalterischen Engagements; vielmehr besteht seine politische Absicht darin, vor einer Überschätzung der menschlichen Handlungsfähigkeit, besser: der Voraussehbar- und somit Planbarkeit der Folgen zu warnen. Dieser Absicht wäre m.E. mit einem klareren Zeitbegriff mehr gedient, womit sich freilich die politische Stoßrichtung modifiziert, ohne daß sich etwas geändert hätte an der Bestandsaufnahme, daß die menschliche Handlungsfähigkeit gegenwärtig i.d.R. überschätzt wird. Deren materielle Basis liegt im Organismus und in dem, was erlernt wurde, mithin also, da ist Beck zuzustimmen, in der Vergangenheit.
Den "Zeitpfeil", das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, hat Koestler mit folgender Metapher abgebildet: "Die Zielgerichtetheit aller Lebensvorgänge ... könnte den unvoreingenommenen Betrachter zu dem Schluß verleiten, die Zugkraft der Zukunft sei ein ebenso realer und gelegentlich sogar noch entscheidenderer Faktor als die Schubkraft der Vergangenheit. Der Schub läßt sich mit der Kraft vergleichen, die von einer zusammengepreßten Feder ausgeübt wird, der Zug mit der Kraft einer in der Richtung der Zeitachse gedehnten Feder"[41]. Wenngleich Koestler hier ein Bild aus der Physik bemüht, plädiert er freilich nicht für die verbreitete Annahme, die Gerichtetheit der Zeit sei letztlich von der einfachsten Organisationsstufe der Natur abzuleiten. In seiner (Zeit-) Theorie der offenen hierarchischen Systeme repräsentieren die komplexeren Systeme höhere Hierarchiestufen.
Die Biologie befindet sich in einem Prozeß der "Verzeitlichung", und zwar nicht erst in unseren Tagen, in denen die Chronobiologie eine ständig bedeutendere Fachrichtung wird, sondern im Grunde spätestens seit Darwin. Das dem Darwinismus implizite Zeitbewußtsein ist gekennzeichnet durch die Ziellosigkeit des Evolutionsprozesses, der zwar irreversibel und gesetzmäßig, aber nicht gerichtet im Sinne einer vorgegebenen Tendenz auf ein näheres oder ferneres Ziel verläuft. Es fehlt die für das abendländische Denken so typische Teleologie. "Etwa seit der Zeit des Aristoteles hatte die Welt eine Art Doppelcharakter mit Kausalität für die anorganische und Finalität für die organische Natur, das eine Prinzip erschien als logische Parallele zum anderen. Aber die Biologie ist keine Parallele zur Physik, vielmehr baut das organische Leben auf dem anorganischen auf, und so können Lebewesen keine Eigenschaften haben, die mit der anorganischen Natur in Widerspruch stehen"[42].
Wendorff ist hier voll und ganz zuzustimmen; ins "gleiche Horn bläst" auch Fraser, m.E. jedoch ein wenig zu laut, wenn er schreibt: "Für die vollständige Beschreibung der Zeitlichkeit auf jeder Organisationsebene ist es nötig, sozusagen aus dem größeren Reichtum und der größeren Welt der nächsthöheren Stufe zurückzublicken ... der Pfeil der Zeit ist mit Sicherheit kein Problem, das die Physik lösen kann. Es ist zumindest ein Phänomen des Lebens, und deshalb gehört sein Studium in die Biologie, die Soziologie und die schönen Künste"[43] - allerdings auch in die Physik, will man nicht über die Verstrickung in die Konkurrenz der Wissenschaftsdisziplinen stolpern und den kritisierten Dualismus gleichsam von der anderen Seite her reanimieren. Nehmen wir Fraser beim Wort, daß der Rückblick von den höheren auf die einfacheren Stufen "nötig" ist und verzichten auf seine Kategorisierung in "Eozeitlichkeit", "Biozeitlichkeit" und "Soziozeitlichkeit".
Andernfalls würde der noch allzu verbreiteten Zerlegung der einen Realität weiter Vorschub geleistet, womit das Ganze, das eben mehr ist als die Summe seiner Teile, zu stark verhüllt bliebe. Gewiß erklärt der Hinweis, daß alles mit allem zusammenhängt, für sich genommen noch nicht viel; er erleichtert jedoch den Erkenntnisprozeß, während er durch die Leugnung einheitlicher Zeitlichkeit erschwert wird. Etwas ganz anderes als ihre Leugnung ist die bewußte Abstraktion von der Ganzheitlichkeit; sie ist mitunter unverzichtbar, weil wir analysieren müssen.
Es fällt schwer, sich den Raum unendlich vorzustellen; daher denken wir uns den Raum begrenzt. Ähnlich verhält es sich mit der Zeit, gerade weil sie die sozialen Verhältnisse symbolisiert. Der Zeitbegriff ist untrennbar gebunden an die Ereigniskette, besser: die Zeit ist die Ereigniskette. Wir müssen dieses Orientierungsinstrument begrenzt denken, obgleich es keine Grenzen - weder Anfang noch Ende - aufweist. So ist es nicht nur zulässig, sondern auch nützlich, wenn Physiker die Zeit vor dem Urknall als "nicht definiert" bezeichnen, oder wenn Aveni schreibt: "Soweit sich das empirisch ausmachen läßt, ist der gegenwärtige Zustand des Weltalls absolut unabhängig von dem, was vor dem Urknall geschah. Für uns fing die Zeit damals an"[44] - aber eben auch "nur" "für uns" und: "soweit sich das empirisch ausmachen läßt". Denn was auch immer vor dem "Urknall" geschehen sein mag, es war die Bedingung unserer Existenz dieser Zeit. Sollte später Wissen darüber verfügbar sein, wird man sagen können, daß mit derem Beginn "unsere Zeit anfing" - oder man bleibt dabei, daß die Zeit mit der Bildung des Zeitbegriffs anfing. Möglich wäre aber auch, daß Wissen über die Zeit vor dem "Urknall" erst vorliegt, wenn anfangsloses Denken schon weit verbreitete Selbstverständlichkeit ist. Ob nun der Inhalt des Zeitbegriffs an die menschliche Existenz gebunden wird oder nicht, bleibt davon abhängig, welchen Charakter die Arbeitsteilung im Wissenschaftssystem jeweils hat bzw. haben wird. Die Entstehung des Zeitbegriffs jedoch ist als ein Teilprozeß identisch mit derjenigen des Menschen.
„Wenn von einem vierdimensionalen Universum die Rede ist, dann beziehen die Menschen sich selbst noch nicht als Beobachtende und Wahrnehmende in ihre Beobachtung und Wahrnehmung ein. Wenn man auf eine höhere Stufe des Wissens heraufsteigt, und die Menschheit als Subjekt des Wissens in sein Wissen mit einbezieht, wird der Symbolcharakter auch der vier Dimensionen erkennbar"[45]. Oder, wie Elias weiter unten formuliert: „Mit dem Eintritt von Menschen gewinnt das Universum zu den vier Dimensionen von Raum und Zeit eine fünfte hinzu, die Dimension des Erlebens, des Bewußtseins, der Erfahrung"[46]. Spätestens an diesem Punkt macht es uns Elias mit seiner Terminologie schwer. Wer humanes Bewußtsein und Empfinden als „fünfte Dimension" bezeichnet, weist sich in der Tat als, wie gegenwärtig gesagt wird, „Querdenker" aus; denn dies liegt so "quer" zu unserer tiefverwurzelten Denktradition, daß es provozierend wirken muß. Ich mag mir kein abschließendes Urteil zu diesem Versuch einer begrifflichen Vereinheitlichung anmaßen. Unbestreitbar ist jedoch, daß er geeignet ist, die dualistische Trennung von Natur und Gesellschaft mit interdisziplinärer Intention infrage zu stellen, die - wie zu Beginn dieses Abschnitts zitiert - Wendorff auf Aristoteles zurückführt. Elias ist weiter der Auffassung, daß diese abendländische Denktradition zunächst auch durch die Reduktion der Abhängigkeit der Menschheit von der Natur, durch die relative Verselbständigung humangeschichtlicher Prozesse reproduziert wurde.
"Die stetige Ausdehnung menschlicher Gesellschaften innerhalb des nicht-menschlichen, des `natürlichen´ Sektors der Welt hat ... einer Redeweise Vorschub geleistet, als ob `Gesellschaft' und `Natur' in getrennten Abteilungen existierten. Die auseinanderlaufende Entwicklung von Natur- und Sozialwissenschaften hat diesen Eindruck verstärkt. Das Problem der Zeit jedoch ist so beschaffen, daß wir nicht hoffen können, es zu lösen, solange physikalische und soziale Zeit unabhängig voneinander untersucht werden"[47]. Fortschritte in der Zeitforschung sind folglich darauf angewiesen, die vermeintlich unterschiedlichen „Zeiten" gemeinsam ins Okular zu bekommen. Hier sei an die bereits zitierte Mahnung des Literaturwissenschaftlers Staiger erinnert: "Doch je breiter das Feld ist, das ins Okular tritt, desto schwächer wird das Einzelne belichtet"[48].
Es wäre nützlich, würden sich Wissenschaftler aller Untersuchungsebenen in stärkerem Maße der einheitlichen Zeitlichkeit in der einen Realität bewußt; dazu mag die in Gang gekommene Diskussion über eine allgemeine Zeittheorie dienen, in deren Rahmen auch die vorliegende Arbeit einzuordnen ist. Freilich kann diese zeittheoretische Debatte nicht das „Ende", sondern allenfalls und hoffentlich einen neuen „Anfang" der Zeitforschung markieren. Eine wissenschaftstheoretische Diskussion ist nicht Selbstzweck, somit auch nicht diese wissenssoziologischen Ausführungen über den Zeitbegriff. Ihr Zweck besteht darin, zu stärker prozeßorientierten Vorstellungen von Zeitlichkeit im Wissenschaftssystem beizutragen - auch in der Hoffnung, daß zeittheoretischer Fortschritt den Weg zu neuem Wissen über konkrete zeitliche Abläufe ebnet.
Die Brauchbarkeit eines einheitlichen Zeitbegriffs ist daran zu messen , welchen Nutzen er für die Untersuchungen der vielen „Einzelnen" stiftet. An eine allgemeine Zeittheorie ist der Anspruch zu stellen, daß sie einen umfassenden Zeitbegriff, der der einheitlichen Zeitlichkeit gerecht wird, fundiert. Weil ihre "Anwendung" sich auf alle "einzelnen" Ausschnitte der Realität zu erstrecken haben wird, wird ihre Qualität nicht zuletzt von der Intensität der Interdisziplinarität in ihrer Entwicklung abhängen. Die eine Zeit zu erforschen setzt voraus, daß die Erkenntnisse über die Bedeutungen der Zeitlichkeit und des Zeitpfeils für, um die herrschende Diktion aufzugreifen, Natur und Gesellschaft zusammengefaßt werden. Dazu ist das Tatsachenwissen nicht nur aus der Physik und den Sozialwissenschaften sowie der Biologie, um auch die mittlere Ebene zu nennen, sinnvoll zu kombinieren. Da jede Nische der Wirklichkeit Prozeßcharakter hat, und da dieser nur mithilfe des Zeitbegriffs zu erfassen ist, da also die Zeit für jede Teilwissenschaft elementare Bedeutung hat, ist für die Entwicklung einer Theorie der Zeit die Mitwirkung sämtlicher Fachrichtungen auf allen Synthesestufen vonnöten - und somit auch für alle von Nutzen. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß interdisziplinär das Interesse am Zeitthema gegenwärtig stark zunimmt.
4.5 Wissenswachstum und Zeitbegriff
Die Berücksichtigung von Zeitlichkeit bildet den Grad der Prozeßorientierung eines Forschungsansatzes ab; denn Zeitlichkeit ist nichts anderes als Prozeßhaftigkeit - die Begriffe sind synonym und untrennbar mit der Wirklichkeit verknüpft, an die das Kriterium der Wissenschaftlichkeit gebunden ist. Daher ist es unerläßlich, empirische Bestandsaufnahmen in das Wandlungskontinuum zu integrieren. Für die sozialwissenschaftliche Forschung heißt dies bspw., daß Gegenwartserhebungen mit einem historischen Ansatz zu Trendprognosen zu verarbeiten sind. Da jedes Ereignis in der Zeit stattfindet als Teil eines Ganzen, gebührt der Interdisziplinarität ein gleich hoher Stellenwert wie der Prozeßorientierung. Es läßt sich sagen, daß es sich im Grunde um zwei Seiten einer Medaille handelt. Prozeßorientierung und Interdisziplinarität beziehen sich aufeinander, ja gehören zusammen wie Zeit und Raum. Ohne das Zusammenwirken verschiedener Fächer kann es aufgrund der Notwendigkeit der Synthese keinen wissenschaftlichen Fortschritt geben.
"Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Geschichte von Heiraten zwischen Ideen, die einander fremd waren und für unvereinbar gehalten wurden"[49], schreibt Koestler und benennt für seine Aussage eine Reihe von Zeugen: "Henri Poincaré erklärte Entdeckungen mit dem glücklichen Zusammentreffen von `gedanklichen Atomen´ im Bereich des Unterbewußten. Nach Sir Frederick Bartlett ist das `wesentlichste Kennzeichen experimentellen schöpferischen Denkens das Entdecken einer Überschneidung ... wo man bislang nur Isolierung und Unterschiedlichkeit gesehen hatte. Jerome Brunner sieht in jeder Form von Kreativität das Ergebnis `kombinatorischer Akte´. McKellar spricht von der `Fusion´ von Wahrnehmungen, Kubie von der `Entdeckung unerwarteter Zusammenhänge zwischen den Dingen´. Das geht so weiter, zurück bis zu Goethes `Verbinden, immer verbinden´"[50].
Es geht mir freilich nicht darum, für ein Ende der Arbeitsteilung im Wissenschaftssystem zu plädieren - auch Koestler nicht. Denn auf den verschiedenen Synthesestufen sind divergierende Untersuchungsmethoden angezeigt; sie müssen der Komplexität des jeweiligen Gegenstandes adäquat sein. Gleiches gilt auch für den Zeitbegriff; in der Physik ist dieses Werkzeug so zugeschnitten, daß seine Reichweite in "physikalischer Beschaffenheit" in der Biologie nicht ausreicht und in den Sozialwissenschaften nur versagen kann. So bedeutend für Sozialwissenschaftler die Interdisziplinarität ist, so unzulässig ist das Kopieren von Methoden und Definitionen, die auf Untersuchungsebenen geringerer Komplexität zu Erfolg verholfen haben. Auch läßt sich die Neurologie so wenig aus der Chemie "ableiten" wie die Psychologie aus der Neurologie. In der einheitlichen Realität gelten auf höheren Synthesestufen kompliziertere Regelsysteme. Dies erläutert Koestler zu seiner Theorie der offenen hierarchischen Systeme wie folgt:
"Wir müssen jedoch einen Unterschied machen zwischen den Regeln, die das Verhalten des einzelnen Individuums bestimmen, und denjenigen, die für das Verhalten der Gruppe in ihrer Gesamtheit maßgebend sind. Das Individuum mag sich nicht einmal der Tatsache bewußt sein, daß sein Verhalten an feste Regeln gebunden ist, und ist ebenso unfähig, diese Regeln zu definieren wie die Regeln der Grammatik zu erklären. Das Verhalten der Gruppe dagegen wird nicht nur von den Verhaltensweisen ihrer Mitglieder bedingt, sondern auch von den Verhaltensweisen anderer Gruppen, mit denen sie als Ganzes auf einem höheren Niveau der Hierarchie in Berührung kommt; und die Spielregeln, die für Gruppen als Ganze gelten, lassen sich ebensowenig von den Spielregeln für Individuen ableiten, wie man etwa die Funktionen des Nervensystems aus den Vorgängen bei den individuellen Nervenzellen ableiten kann oder die Regeln der Syntax aus den Regeln der Phonologie. Wir können ein komplexes Ganzes in die - als seine Bestandteile fungierenden - Holons zweiter und dritter Ordnung aufgliedern, aber wir können es nicht auf die Summe seiner einzelnen Bestandteile `reduzieren' und auch nicht seine Eigenschaften aus denen seiner Einzelteile ableiten. Die hierarchische Konzeption von den `Organisationsstufen´ impliziert ex hypothesi die Ablehnung der `reduktionistischen' Auffassung, wonach sich alle Phänomene (einschließlich des Bewußtseins) auf physikalisch-chemische Gesetze zurückführen und durch sie erklären lassen"[51].
Die verschiedenen Untersuchungsebenen dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Erkenntnisprozesse, die auf unterschiedlichen Synthesestufen stattfinden, können nicht gleichsam "in einen Topf geworfen" werden - auch deshalb nicht, weil es in diesem Fall Interdisziplinarität gar nicht geben könnte. Wir sind im Bewußtsein des pausenlosen Flusses darauf angewiesen, relative Anfangs- und Endpunkte nach Zweckmäßigkeitserwägungen zu setzen. Das Verknüpfen von Erkenntnissen ist daher strikt zu unterscheiden von dem Nivellieren der Erkenntnisprozesse.
Menschliches Erkennen, so ließe sich verkürzt sagen, ist daran gebunden, das im einzelnen Analysierte zu einem neuen Ganzen zu synthetisieren.
Das menschliche Wissen nimmt zu - und dieses Wachstum verläuft mit stetiger Beschleunigung. Es ist bereits angemerkt worden, daß in diesem Jahrhundert damit die Namen Einstein und Freud an vorderer Stelle verbunden werden, und daß für das vorherige besonders Marx und Darwin zu erwähnen sind. Diese vier forschten bekanntlich auf verschiedenen Fachgebieten, gemeinsam ist ihnen, daß jedem ein Durchbruch zu größerer Prozeßorientierung gelang.
Darwin gab zu bedenken, daß man sich nicht zu viel vom Wissensfortschritt versprechen dürfe: "Was den Fortschritt der Ansichten angeht, so sehe ich deutlich, daß er ungeheuer langsam sein wird, fast so langsam wie die Abänderung der Arten. In der Tat wird er, glaube ich, unmerklich sein"[52]. Zweifellos hinken die "Ansichten" dem verfügbaren Wissen hinterher; auch der Eindruck, daß sich dieser Abstand vergrößere, ist nicht von der Hand zu weisen. Doch was Darwin deutlich zu sehen glaubte, nämlich die ungeheuere Langsamkeit geistig-kulturellen Fortschritts, war nichts anderes als sein eigenes Werturteil, entsprungen dem reflexiven Vergleich seiner selbst mit der Gesellschaft. Bei aller Neigung, sich ihm anzuschließen, spricht doch mehr für die Annahme, daß die "Ansichten" letztlich das gesellschaftliche Wissen widerspiegeln, allerdings gebrochen durch eine Vielzahl von Faktoren. Es ist bekannt, in welch verheerenden Formen diese "Brüche", nämlich die deutlichen Regressionen hinter die "Allgemeinbildung" und vor allem hinter die zivilisatorischen Standards, ausbrechen können.
Dies darf die Augen nicht dafür versperren, daß das menschliche Wissen stetig oder genauer: exponentiell zunimmt. "Die Priorität für die Erkenntnis des Phänomens der Beschleunigung schreibt man Engels zu, bei dem sich in einer Auseinandersetzung mit Malthus die Feststellung findet:
„Die Wissenschaft schreitet fort im Verhältnis zu der Masse der Erkenntnis, die ihr von der vorhergehenden Generation hinterlassen wurde, also unter den allergewöhnlichsten Verhältnissen auch in geometrischer Progression"[53].
Dadurch daß Engels seine Prognose wohl in Anlehnung an die Naturwissenschaft seiner Zeit gleichsam als "Gesetz" formuliert hat - wenn auch gültig nur "unter den allergewöhnlichsten Verhältnissen" -, wirkt sie in ihrer Prozeßorientierung dennoch ein wenig schematisch-statisch. Wie wir wissen, hat Engels' Optimismus der Realität des wissenschaftlichen Fortschritts zumindest standgehalten. Auf Basis des der Marxschen Theorie inhärenten linear-progressiven Zeitverständnisses konnte sich die Zuversicht hinsichtlich des Wissensfortschritts bereits unter dem Eindruck entwickeln, "daß sich in einer kurzen historischen Zeitspanne ein Übergang von der `Kleinwissenschaft´ zur `Großwissenschaft' vollzogen hat. Ein Beispiel hierfür ist das Anwachsen der Zahl der wissenschaftlichen Zeitschriften. Die ersten wissenschaftlichen Zeitschriften wurden um 1665 im Zusammenhang mit den damaligen Akademiegründungen ins Leben gerufen, um 1800 gab es etwa hundert wissenschaftliche Zeitschriften, um 1850 tausend, um 1900 zehntausend und um 1960 hunderttausend. Trägt man diese Zahlen mit weiteren Differenzierungen in eine graphische Kurve auf, so sieht man, wie sie zunächst ganz langsam ansteigt und in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts nahezu senkrecht `in die Höhe schießt´"[54].
Mit der Beschleunigung des Wissenszuwachses im 20. Jahrhundert verbreitet sich die Erfahrung, daß eine kontinuierliche Wachsamkeit gegenüber dem ursprünglich Gelernten geboten ist. Dies gilt nicht nur - aber zuerst und vor allem - für die Fortschritte auf dem eigenen Fachgebiet. Gerade hier ist die Notwendigkeit lebenslangen Lernens offenkundig, so daß eine offene, kritische Einstellung geradezu erzwungen wird. Damit geht jedoch eine permanente Verunsicherung einher, die über das eigene Fachwissen hinausgeht. Die Haltung zu Gesellschaft und Kultur schlechthin wird als ständig modernisierungsbedürftig erfahren, was zu einer Schärfung des allgemeinen Zeitbewußtseins führt.
Ähnlich wie Norbert Elias beurteilt auch Niklas Luhmann die emotionale Qualität des Wissenszuwachses, insbesondere über den Prozeßcharakter des Lebens. Luhmanns Auffassung wird folgendermaßen referiert: "Die soziologische Aufklärung führt, wie jede Aufklärung, durch die Entzauberung von Illusionen und die Kritik an Vorurteilen zu Enttäuschungen. Was ewig, allgemein und unbedingt galt, erweist sich im Lichte der Aufklärung als bedingt durch historisch wandelbare gesellschaftliche Verhältnisse ... Daß etwas kontingent, also anders sein könnte, läßt die moderne Welt unsicherer werden, stört das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit der sozialen Verhältnisse."[55]
[1]Elias, N.: Über die Zeit, S. 70 f. - Die ausführlichen bibliographischen Angaben befinden sich grundsätzlich im Literaturverzeichnis. Die bei Zitaten in den Fußnoten angegebenen Seitenzahlen gelten für die dort aufgeführten Bände.
[2] Ebd., S. 72.
[3]Schöps, M.: Zeit und Gesellschaft, S. 63.
[4] Schütz, A.: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, S. 62.
[5] Marx, K.: Doktordissertation, S. 295.
[6] Rost, R.: Überwindung des Zeitbegriffs, S. 9.
[7] Ebd., S. 10.
[8] Ebd., S. 149 - bei aller Zustimmung würde ich aus den genannten Gründen statt "abstrahiert" "synthetisiert" o.ä. formulieren.
[9] Ebd., S. 30 f.
[10]Aveni, A. : Rhythmen des Lebens, S. 13.
[11]Hawking, S. W.: Eine kurze Geschichte der Zeit, S. 50 f.
[12]Einstein, A.: Aus meinen späten Jahren, S. 86.
[13]Einstein, A. : Mein Weltbild, S. 157.
[14]Elias, N.: Über die Zeit, S. 74 f.
[15]Einstein, A. : Mein Weltbild, S. 119 f.
[16]Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 461.
[17]Einstein, A. : Mein Weltbild, S. 128.
[18] Ebd., S. 143 f.
[19]Cramer, F.: Der Zeitbaum, S. 20.
[20]Fraser, J. T.: Die Zeit: vertraut und fremd, S. 304.
[21]Elias, N.: Die Gesellschaft der Individuen, S. 232.
[22]Cramer; F.: Der Zeitbaum, S. 123.
[23]Ditfurth, H. v.: So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, S. 351.
[24]Wortmann, G.: Physik, S. 9.
[25] Ebd., S. 259.
[26] Vgl. bspw. Davies, P.: Quantenmechanik.
[27]Hawking, S. W.: Eine kurze Geschichte der Zeit, S. 77.
[28] Ebd., S. 215.
[29]Davies, P.: Quantenmechanik, S. 27.
[30] Ebd., S. 28 f.
[31] Ebd., S. 34.
[32] Vgl. Rein, D.: Die wunderbare Händigkeit der Moleküle.
[33]Aveni, A. : Rhythmen des Lebens, S. 416.
[34]Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 381.
[35] Vgl. Prigogine, I.: Vom Sein zum Werden, S. 256 ff.
[36] Dux, G.: Die Zeit in der Geschichte, S. 36.
[37] Ebd., S. 99 f.
[38]Cramer, F.: Der Zeitbaum, S. 139.
[39]Schaltenbrand, G.: Bewußtsein und Zeit, S. 54.
[40] Beck, U.: Risikogesellschaft, S. 44.
[41]Koestler, A.: Das Gespenst in der Maschine, S. 220.
[42]Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 405.
[43]Fraser, J. T.: Die Zeit - vertraut und fremd, S. 353 f.
[44]Aveni, A. : Rhythmen des Lebens, S. 191.
[45]Elias, N.: Über die Zeit, Vorwort, S. XLVII.
[46] Ebd., S. 52.
[47] Ebd., S. 9.
[48]Staiger, E.: Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 16.
[49]Koestler, A.: Das Gespenst in der Maschine, S. 202.
[50] Ebd., S. 203.
[51] Ebd., S. 64.
[52] Zit. nach Ritter, H.: Zeit, viel Zeit.
[53]Buchholz, A.: Am Ende der Neuzeit, S. 43.
[54] Ebd., S. 54.
[55]Günther, K.: Gegenwärtige Beschwörungen des Bösen.
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