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Kapitel 5: Der Fortschritt der Zeit
Die Geschichte der abendländischen Kultur ist eine Geschichte des Zeitbewußtseins. Die europäische Dynamik resultiert aus der permanenten Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit. Zivilisatorische Ergebnisse, die über Jahrhunderte hinweg recht stabilbleiben, werden ergänzt durch für bestimmte historische Phasen typische Verhaltensmuster. Immer neue Erlebnisse und Erfahrungen akkumulieren sich zu einer Tradition, die sich als Wandlungskontinuum darstellt. Die Entwicklung des Zeitbewußtseins ist weder gradlinig noch gleichmäßig verlaufen; das Tempo des Fortschritts unterlag starken Schwankungen. Es gab den Wechsel von retardierenden und beschleunigenden Tendenzen; es gab Dominanzwechsel zwischen einem linear-progressiven Zeitempfinden und einem eher Zeitlosigkeit assoziierenden Raumbewußtsein. Es gab und gibt alle vorstellbaren Zwischentöne. Das gegenwärtige Zeitbewußtsein beinhaltet all diese europäischen Erfahrungen; denn im Zivilisationsprozeß geht nichts völlig verloren; Neues wächst selten ohne Vorlauf, ohne Bezug zum Vorangegangenen. Niemals löst ein Zeitbegriff schlagartig den anderen ab, vielmehr verschiebt sich die Anordnung und Bedeutung der Elemente, die das Zeitbewußtsein insgesamt konstituieren.[1]
Aus der Sicht der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie formuliert Pörtner das Problem des Fortschritts innerhalb des „Raums der Episteme“ folgendermaßen, wobei deutliche Parallelen zum Zivilisationsprozeß auffallen: „Was für den sozialen Raum seine Gültigkeit hat, besitzt im Bereich der Episteme im engeren Sinne erst recht seine Wertigkeit: im Raum der Erkenntnis gibt es Bevorzugungen und Benachteiligungen, abgestorbene Seitenzweige und einen erfolgreichen, eroberungssüchtigen Imperialismus hegemonialer Deutungsmuster, zu Unrecht vergessene Traditionen oder die zyklische Wiederkehr immer gleicher 'Unfragen' unter neuen Vorzeichen. In der Sprache der Chaostheorie: Symmetriebrüche und Verzweigungsvorgänge (Bifurkationen), gefolgt von dynamischen, relativen Gleichgewichtszuständen, einer „Ordnung, durch Schwankungen“ (Prigogine), sind an der Tagesordnung... Der Raum der Episteme ist also: multidimensional, anisotrop, intertextuell. Denn, obwohl die Trajektorien (Richtungspfeile) der Erkenntnis autonom und inkommensurabel sind oder zumindest scheinen, ihre Bezogenheit aufeinander und ihre Verflochtenheit untereinander eröffnen allererst die Chance, die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die Bildung neuer und die Entfaltung zukunftsträchtiger, epistemologischer Raumkeime zu schaffen; der 'Nährboden' für die Erzeugung innovativer Weltbilder ist mithin immer synkretistischer Natur.“[2]
Mit der Aufklärung im allgemeinen und der gesellschaftswissenschaftlichen im besonderen, mit dem Fortschritt im allgemeinen und dem des Wissens im besonderen bildet sich ein neuer Typus von Zeiterfahrung und -bewußtsein heraus. Das Tempo der Entwicklung wird als immer schneller werdend wahrgenommen; mit der vermeintlichen und tatsächlichen permanenten Beschleunigung gehen häufig genug Unsicherheit und Frustration einher. Es verbreitet sich das Gefühl, „mit der Zeit nicht mehr mitzukommen“. Die Zeit hat - als allgemein-menschliches Orientierungssystem und als Symbol gesellschaftlicher Verhältnisse - eine ordnungs- und auch sinnstiftende Funktion, die sie in dem Maße einbüßt, im dem sie als flüchtig empfunden wird. Blumenberg kommentiert dies so:
„Die Verlorenheit des Menschen in der Zeit hatte ganz andere Bewußtseinsvirulenz als die vorhergehende im Raum: Diese war nur ein metaphorisches Indiz, das einer zuvor versicherten oder vermeinten Zentralstellung widersprach, während jene Ausdruck eines Sinnverlustes war, der die Geschichte im ganzen betraf, die Bedeutung weniger der Welt für den Menschen, als die Menschen für die Welt zu minimieren drohte.“[3]
Diese vom Philosophen Blumenberg m.E. treffend als „Verlorenheit des Menschen in der Zeit“ beschriebene Empfindung ist zurückzuführen auf einen realitätsgerechteren Zeitbegriff und ein realitätstüchtigeres Zeitbewußtsein. Da all diese, wie sie sind, geworden sind, werden sie sich gewiß weiterentwickeln; der Weg zurück zu einer Zeitvorstellung, in der die Zeit gleichsam als Ruheraum wirkt, erscheint versperrt. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nicht auch kollektive Regressionen, sozusagen Agonien des Zeitbewußtseins, geben kann. Menschen haben ein Zugehörigkeitsbedürfnis, und wenn sich Individualisierungstendenzen beschleunigen, stellen sie sich häufiger auch die Frage, in welche Zeit sie „hingehören“. Eine Antwort ließe sich durch die Charakterisierung von Raum und Zeit geben: Wir Zeitgenossen im westlichen Kulturkreis gehören in die Zeit der massenhaften Herausbildung des bürgerlichen Individuums, ließe sich bspw. sagen. Im Grunde genommen spiegelt die Frage nach der Zeit, in der wir leben, nichts anderes wider als das oben zitierte Gefühl der „Verlorenheit in der Zeit".
5.1 Zeitentwicklung und politisches Wissen
So wie unser Geschichtsbild auf unserem Zeitbegriff beruht, resultiert das Zeitbewußtsein aus unserer Geschichte[4]. „Der Mensch nimmt die Zeit je nach Epoche und Kultur, in der er lebt, unterschiedlich war“[5]. Es ist, um mit Elias zu formulieren, die Zeit selbst, die sich verändert. Dies ist unstreitig und doch ständig vom neuem zu vergegenwärtigen, um sich überhaupt der Aufgabe stellen zu können, zu untersuchen, in welche Richtung sich Zeitbegriff, -bewußtsein und -empfinden hin entwickeln. Dux ist zuzustimmen, wenn er schreibt:
"Es ist schärfer zusehenden Interpreten nie fraglich gewesen, daß die Zeit eine wirkliche Entwicklung durchgemacht und nicht einfach nur eine Veränderung auf immer gleichem Niveau erfahren hat. Fraglich war auch nicht, daß dieser Prozeß sich als ein Prozeß zunehmender Abstraktion darstellte. Fraglich war einzig, worin er bestand, und wie er zu erklären sei. Gemeinhin wird die Entwicklung in der Ablösung einer zyklischen durch eine lineare Zeit gesehen"[6]. Freilich werden zyklische Zeitmythen nicht durch das linear-progressiveZeitbewußtsein abgelöst im Sinne von „ersetzt“, doch das behauptet Dux auch nicht; und ist dies im Sinne einer Gewichtsverschiebung bzw. Akzentverlagerung der Zeitdefinition „gemeinhin“ gemeint, ist dagegen nichts einzuwenden.
An dieser Stelle ist festzuhalten: „Die menschliche Erfahrung dessen, was heute Zeit genannt wird, hat sich in der Vergangenheit verändert und verändert sich in der Gegenwart weiter, und zwar nicht in einer zufälligen und historischen Weise, sondern in einer strukturierten und gerichteten Weise, die erklärt werden kann“[7]. Bevor mit dem Versuch begonnen wird, entsprechende Erlärungsansätze aufzuzeigen, ist es nützlich, sich gleichsam als Momentaufnahme zu vergegenwärtigen, an welchem Punkt die Entwicklung die Zeit in unseren Tagen „steht“. Recht illustrativ ist hier das Bild, das Aveni zur Beschreibung der Verschränkung von zyklischen und linearen Zeitvorstellungen gewählthat:
„Das beste Modell für die Zeit in der heutigen Welt bietet vielleicht die Vorstellung von einer Reihe miteinander verbundener Reifen, die einen großen Fortschrittshang hinaufrollen. Während wir zyklisch Schlaf- und Wachphasen, einen Tag nach dem anderen, Woche um Woche durchleben, scheint langfristig unsere Existenz zugleich eine endlose Kette von unverwechselbaren Augenblicken, eine Reihe abgeschlossener, sukzessiver Stadien, deren jedes einzigartig und unwiederholbar ist"[8].
Der Erkenntnis- und Gesellschaftstheoretiker Hans-Dieter Bahr spricht in seinem in den 80er Jahren veröffentlichten Buch „Sätze ins Nichts. Versuch über den Schrecken“ vom „Jetzt“, vom Zeitpunkt des Augenblicks, von der „Zeit als Präsenz“ als dem Ursprung unserer (westlichen) Auffassung des denkenden Subjekts. Das „Schema jetzt“ sei auch das Zeitschema der abendländischen Philosophie; daraus ergibt sich alles andere.
„Sprechen wir von einer kausalen Veränderung, so ist darin bereits ein Subjekt vorgestellt, welches sich erhält, d.h. als Substanz dauert, indem seine Prädikate, die Akzidenzen, nach einer Regel unumkehrbaren Nacheinanders wechseln. Diese Substanz wird gewöhnlich, in physischen Erscheinungen, `Kraft` genannt, welche kausal ihre Attribute ändere. Wie also die Zeitschemata von gleichzeitiger Wechselwirkung und nacheinanderfolgender Veränderung die Zeitschemata von Dauer und Wechsel voraussetzen, so letztere wiederum jene des Werdens, des Vergehens und Entstehens, als Bestimmungen der Begriffe Limitation, Negation und Realität. Im Werden - denken wir nur an das Zeitschema - wird die Zeit bereits als Etwas, als ein Seiendes selbst in der Zeit genommen. Diese Selbstimmanenz der Zeit setzt also das Zeitschema als reine Extension voraus, worin die vorgängigen Zeitbestimmungen - nämlich Zugleich und Nacheinander, Dauer und Wechsel, Entstehen und Vergehen - schon durchgängig und einheitlich zeitlich bestimmt sind. Es ist die Zeit als Kontinuum überhaupt, also als Einheit in der Sukzession. Und schließlich setzt die Zeit als Folge oder anreihendes Nacheinander ihre Bestimmung als Zeitpunkt oder Jetzt voraus. Den Begriff des Schemas Jetzt nennt Kant das Eine, das der Sukzession das Viele, das des Kontinuums die Allheit. Insgesamt bezeichnet er das Zeitschema der Extension im Begriff der Zahl. Sie besteht in der Erzeugung von Zeit überhaupt. Der Ausdruck 'Erzeugung' verweist also nicht auf einen Zeitpunkt in der Zeit, sondern auf den der Zeit `selbst´ und damit auf den Ursprung von Zeit als Präsenz, auf den Sprung zum Augenblick, in welchem die Auffassung der Anschauung mit der spontanen Zusammenfassung des denkenden Subjekts verschmelze. Dieser Augenblick ist der Sinn jeden möglichen Sinns...“[9]
Zurück zum Bild Avenis„von einer Reihe miteinander verbundener Reifen“: diese Vorstellung des heutigen Zeitbegriffs ist, wie wir gesehen haben, alles andere als ein Plädoyer für Momentaufnahmen zur Untersuchung sozialer Zusammenhänge. Freilich sind Bestandsaufnahmen, Feldstudien, empirische Erhebungen und wie immer auch die sozialwissenschaftlichen Photographien heißen mögen als methodische Markierungen unerläßlich; doch erst hintereinander gelegt mögen / können sie Einblicke in soziale Prozesse eröffnen. Der hohe Stellenwert, der diesem methodischen Instrumentarium als Kriterium für die Wissenschaftlichkeit der Gesellschaftswissenschaften zugemessen wird, hat häufig genug prozeßreduzierenden Tendenzen in den Sozialwissenschaften Vorschub geleistet. Erfreulicherweise scheinen mit der zunehmenden Emanzipation der akademischen Soziologie bzw. Politologie die mit der Überbetonung statisch-mathematischerMethoden einhergehenden Beschränkungen an Boden zu verlieren und tendenziell einem historischen Zugang mit prognostischen Trendaussagen Platz zu machen.[10]
Den Begründern der modernen Soziologie und Politologie als eigenständigen Wissenschaften war dieses prozessuale Verständnis unseres Faches durchaus nicht fremd. Hören wir dazu etwas ausführlicher Elias:
„Vergangenheit, Gegenwart und bisweilen auch Zukunft menschlicher Gesellschaften zusammen ins Auge zu fassen als Repräsentanten einer kontinuierlichen Bewegung war also durchaus nichts Seltenes in diesen Soziologengenerationen meiner Jugend. Sie ahnten vielleicht, wenn sie es auch noch nicht mit diesen Worten sagten, daß die Probleme und Strukturen der jeweiligen Gegenwart eine recht andere Gestalt annehmen, wenn man sie im Lichte der Vergangenheit, im Verein mit langen sozialen Prozessen, die zu ihnen hinführen, sieht, als wenn man sie kurzfristig und statisch nur alsGegenwart für sich betrachtet“[11]. „Was sie als Fortschritt betrachteten, war allerdings, entsprechend der Verschiedenheit ihrer sozialen und politischen Ideale, recht verschieden... In diesem Sinn besaßen alle soziologischen Entwicklungstheorien des 19. Jahrhunderts einen stark teleologischen Charakter. In diesem Sinn fielen sie auch wieder in die alte Vorstellung zurück, daß etwas mehr oder weniger Unwandelbares den Bezugsrahmen für alle Wandlungen bilde. Auch Marx war noch nicht ganz in der Lage, sich von der Vorstellung freizumachen, daß der Hauptantrieb der Gesellschaftsentwicklung, die Klassenkämpfe, die inneren Widersprüche der Gesellschaft, mit dem Siege des Proletariats ihr Ende finden würden, und damit auch die Gesellschaftsentwicklung, wie wir sie bisher kennen“[12].
Soweit Elias, dem in seiner Kritik an Marx´ Teleologiehier beizupflichten ist. Zwar ist für marxistische und wissenssoziologische Autorenunstreitig, daß nach der Monopolisierung der physischen Gewalt der Prozeß der Zusammenfassung und Ballung wirtschaftlicher Einheiten voranschreitet, daß nach der Demokratisierung der Nationalstaaten sich der Prozeß der Vergesellschaftung ökonomischer Anordnungs- und Aneignungsbefugnis vollzieht, und daß mit der stetigen zeitlich-räumlichen Ausdehnung der Arbeitsteilung planmäßiges Wirtschaften die spontanen marktvermittelten Prozesse zunehmend ergänzt und ersetzt. Diese von Marx prognostizierten Trends vollziehen sich mit wachsender Geschwindigkeit; nur: so unzutreffend es schon immer gewesen ist, im (relativen) Abschluß dieser Entwicklung das „Ende der Geschichte“ zu erblicken, so schwer fällt es dem zeitgenössischen Beobachter, die Exekution ökonomischer Monopolisierung, Demokratisierung und Planung bei umfassender und allgegenwärtiger Legitimation durch Arbeit für die Erfüllung eines Heilsversprechens zu halten.
Im Rahmen der Globalisierung der Märkte ist viel von einer „Dezentralisierung“ der Produktionsstandorte die Rede, von Gruppenarbeit und Abbau der Hierarchien. Daß diese Tendenzen nur scheinbar im Widerspruch zum Prozeß der Monopolisierung des Kapitals stehen, verdeutlicht Norbert Trenkle:
„‘Dezentralisierung’ heißt nämlich vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus gerade das Gegenteil davon, die Güter dort zu produzieren, wo sie benötigt werden. Es bedeutet vielmehr die Zerlegung der Produktionsvorgänge, die Auslagerung von Funktionen und die Organisation des bisher betrieblichen Prozesses im Weltmaßstab. Die verschiedenen Teilkomponenten eines Produkts entstehen also an weit auseinanderliegenden Orten, werden über aufwendige Transportwege in zentralen Montagefabriken wieder zusammengeführt und von dort als verkaufsfähige Ware wieder in die weltweiten Vertriebskanäle gelenkt.
Die betriebswirtschaftliche ‘Dezentralisierung’ kommt daher vom Standpunkt der Regionen aus einer Hyperzentralisierung gleich.“[13]
Es ist von vornherein töricht gewesen, darauf zu warten, daß die kapitalistischen Marktgesetze quasi „von selbst“ oder „von sich aus“ Bedingungen schaffen, die es ermöglichen würden, ebendiesen Kapitalismus „mit seinen eigenen Waffen zu schlagen“, oder ihn zumindest zu „zähmen“. Das Wirken der (blinden) Marktgesetze zeigt eben gerade das Fehlen politisch-sozialer Bewegungen an:
„Gerade die Herausbildung kapitalistischer Klassen zeigt das Fehlen einer Gesellschaft produzierenden sozialen Bewegung in der Struktur an, muß also auch in der Struktur gedacht werden, d.h. die soziale Bewegung wird nur dann als äußere mißverstanden, wenn ihr Fehlen in der Struktur deutliche Spuren hinterläßt, ohne daß sich eine Hoffnung auf die Integration vereinzelter politischer Produktionen in einer zusammenhängenden Bewegung auftäte.“[14]
Hermann Schwengel betont schon Ende der 70er Jahre in diesem Buch ausdrücklich, daß es außer der politischen Dimension keinerlei äußere Schranke für die bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaftung gäbe, und damit auch keinerlei Schranke für das Kapital.
„Außerhalb der Bewegung der politischen Produktion des Realen existiert für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft keine Schranke. Darin unterscheidet sich diese Gesellschaft ja gerade von vorherigen. Daß das Kapital die letzte Schranke des Kapitals sei, kann nicht wie der logisch vergleichbare Satz behandelt werden, daß die letzte Schranke des Feudalismus der Feudalismus sei, d.h. als abstraktes inneres Todesprinzip. Vielmehr ist hier Kapital als neuartige Möglichkeitsstruktur zu begreifen, deren Möglichkeiten es selbst, eben weil es Möglichkeitsstruktur ist, nicht ergreifen kann, denn die Ergreifung der Möglichkeit löst das Mögliche als Mögliches auf ... Die letzte Schranke des Kapitals ist, daß es als radikale Struktur tatsächlich nie mehr als eine Struktur sein kann und nicht wie der bürgerliche Modus auf die imaginären Daten der Naturgeschichte zurückgreifen kann, eine Grenze, die sich natürlich gerade dem logisch-empirischen Verfahren, das ja Daten und Logik kombi
niert, entziehen muß. Die letzte Schranke des Kapitals ist also...die soziale Bewegungder politischen Produktion des Realen und genau dies ist das Andere des Kapitals.“[15]
Wie Marx und Engels sieht auch Mannheim eine Entwicklungsrichtung in der menschlichen Geschichte, die in der planmäßigen Handlung des Menschen ihren relativen Anfang nahm. Arbeit beginnt als Einwirkung auf die nicht-menschliche Natur und erlangt in der Folge notwendig gesellschaftlichen Charakter, womit sich der Mensch selbst verändert. Das folgende Zitat mag verdeutlichen, daß Mannheims Wissensoziologie auf der Basis Marxschen Denkens bereits den Boden für Elias' Zivilisationstheorie gelegt hat: „Der Mensch hat mit dem Sammeln von Blättern eine Handlungsreihe begonnen, die ihn differenzierter macht und dieser Zivilisationsvorgang verändert ihn selber. Wenn wir bedenken, daß jede Erfindung an der Veränderung der Menschheit mitgewirkt hat, wird bald klar, daß dies gar nicht das erste Zeitalter ist, in welchem der Mensch durch die Veränderung seiner Umgebung auch sich selbst verwandelte ... Die kumulative Wirkung der Zivilisation ändert nicht nur unser Verhältnis zur Natur, sondern auch unseren eigenen Charakter ... Je mehr uns die Technik von der Willkür der zufälligen Umstände befreit, desto mehr verstricken wir uns in das Geflecht von sozialen Beziehungen, die wir selber geschaffen haben"[16].
5.2 Modernes Zeitbewußtsein und der Fortschritt
„Verzeitlichungstendenz und Erweiterung des Zeithorizonts sind zwei verschiedene Vorgänge, die sich im gleichen Zeitraum abspielen, sich gegenseitig bedingen und fördern"[17].Je weiter sich die menschlichen (Arbeits-) Beziehungen in den Raum erstrecken und je intensiver ihr Charakter wird, desto bedeutungsvoller wird die Funktion der Zeit: qualitativ bewegt sich die Entwicklung der menschlichen Figurationen zunehmend anhand von temporalen Orientierungspunkten, quantitativ dehnt sich die sozial relevante Zeitachse aus - dies sind zwei Seiten einer Medaille.
Damit sich ein verbindliches Zeitbewußtsein allgemein verbreiten konnte, das ein integriertes Zeitsystem widerspiegelte, mußten sich die Möglichkeit und Notwendigkeit zukunftsgerichteter Planung ergeben. Dies zeigt, wie eng die Bedeutung der Zeit an die des Raumes gebunden ist; denn diese Möglichkeiten wachsen mit der Größe kooperierender Menschengruppen, also mit der Größe politisch homogener, befriedeter Ordnungen. Die Einigungen Italiens und dann Deutschlands sind Beispiele für den (in diesen Fällen relativ späten) Vollzug dieses Anpassungsdruckes, größere Lebensraumeinheiten herzustellen, mithin die räumliche Differenzierung zugunsten der zeitlichen Differenzierung zu reduzieren. Dieser Prozeß, der im letzten Jahrhundert zwar keineswegs begonnen hat, setzt sich bis heute fort, ja er beschleunigt sich erheblich, wie die EU-Integration und die Diffusion moderner Telekommunikation beispielhaft zeigen.
Wendorff macht darauf aufmerksam, daß das Zeitbewußtsein nicht nur regional, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft in den diversen Lebensbereichen verschieden entwickelt ist. Neben den offenkundigen regionalen Unterschieden verläuft der Fortschritt auch sektoral in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die Uhren, so ließe sich sagen, gehen in den verschiedenen Lebensbereichen anders. Zwar werden alle vom Fortschritt erfaßt; doch einige Beispiele - auch in dieser Hinsicht trägt die Parallele sektoral = regional - erweisen sich als recht resistent, gleichsam als dem Fortschritt schwer zugängliche „tote Winkel“[18]. Dies ist das eine Problem bei dem Versuch, gesellschaftliche Zustände an dem Generalnenner des Begriffs Fortschritt zu messen. Das andere und m.E. weitaus gewichtigere ist, daßhäufig genug das Kriterium für das Werturteil „Fortschritt“ eben nicht die Differenz aus den Bewertungen des gegenwärtigen zum vorherigen Zustand ist, sondern die zu einem Ideal. Diese unzulässige Verschiebung der Relationen bedeutet schon und reproduziert weiter eine Abwertung des Fortschritts, die etliche Werturteile gegenwärtig durchzieht. Freilich kann nicht geleugnet werden, daß der Vergleich des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen seiterseits nicht selten ein problematisches Unterfangen ist, ist es doch oft so, daß solche Vergleiche eher zur Verklärung der Vergangenheit neigen als zur nüchternen Bestandsaufnahme der Gegenwart. Aber zu dieser nüchternen Bestandsaufnahme gibt es keine Alternative. Einem Ideal gegenüber ist die Gegenwart immer defizitär und „unterbelichtet“ (damit soll jedoch nichts gegen die Orientierung an Idealen oder Visionen gesagt werden, aber sie müssen sich an den Möglichkeiten der Realität orientieren, und nicht umgekehrt). „Fortschritt“ in diesem Sinne ist daher eher eine „regulative Idee“ (Kant) denn eine Apologie der „ewigen Höherentwicklung“. Jedenfalls sollte der „Fortschritt in der Zeit“ mehr beinhalten als die bloße Auffassung von der Zeit als „neutralem Medium“ der Messung. Castoriadis meint dazu:
„Doch das Zutagetreten eines bestimmten Subsystems demographischer oder ökonomischer Gesetze, wie sie in der betreffenden Gesellschaft gelten, wird seinerseits ein für allemal von dem allgemeinen System jener Gesetze festgelegt, die den Gang der Geschichte festlegen. So gesehen spielt es keine Rolle, ob die Theorie diese Gesetze - bewußt oder unbewußt - aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder gar einer konstruierten oder 'entworfenen' Zukunft gewinnt. Worauf sie abzielt, ist jedenfalls etwas Zeitloses von idealer Substanz. Zeit ist für sie nicht mehr das, was die unmittelbarste Erfahrung ebenso lehrt wie die tiefgründigste Reflexion: ständiges Ausschwitzen von Neuem durch die Poren des Seins, wobei sich selbst das unberührt gebliebene Identische wandelt. Statt dessen betrachtet sie die Zeit als neutrales Verlaufsmedium, als abstrakte Bedingung sukzessiver Koexistenz, als Instrument zur Ordnung des Vergangenen und Künftigen, das sich ideell immer schon selbst vorangegangen ist. Die doppelte notwendige Illusion der abgeschlossenen Theorie liegt in der Annahme, die Schöpfung der Welt sei immer schon beendet, weshalb die Welt vom Denken in Besitz genommen werden könne.“[19]
Castoriadis sagte dies explizit bezüglich der marxistischen Orthodoxie, bestimmter Spielarten von materialistischem Mechanizismus gegenüber; aber ebensogut ließe sich diese Kritik an einer „Neutralisierung“ von Geschichte und Zeit auch auf andere Ideologeme der „Wissenschaftlichkeit“ ausdehnen.
Das vorherrschende linear-progressive Zeitbewußtsein wird zunehmend problematisiert. Spätestens seit dem Schock des II. Weltkrieges setzen die Risiken ungehemmter technischer Entwicklungen dieses (noch) dominante Zeitgefühl wachsender Kritik von „links“ und „rechts“ aus - um vertraute räumliche Metaphern zu gebrauchen anstelle der noch zu entwerfenden zeitlichen, will man nicht auf das entsprechend kritisch zu betrachtende Begriffspaar „fortschrittlich-reaktionär“ zurückgreifen. Die mit dieser Opposition offenkundigverbundene Chance zu einer Ergänzung des linear-progressiven Zeitbewußtseins und zu einem Ausstieg aus der Hochgeschwindigkeitsgesellschaft wird begleitet von dem Risiko, daß der Zeithorizont enger werden könnte, wie es sich in der zunehmend negativen Einfärbung des Fortschrittsbegriffs bereits andeutet.
„Belastet vom Stigma der Desillusionierung, so schien es, wurden Begriffe wie `Fortschritt´ und `Entwicklung´ für die Forschung unbrauchbar. Die kollektive Enttäuschung darüber, daß der Glaube und das Idealbild, die sich in einer früheren Epoche mit den Begriffen ‘Fortschritt´ und`soziale Entwicklung´ verbunden hatten und die ihre Bedeutung noch heute mitprägen, so offensichtlich unerfüllt blieben, erzeugte in der Tat eine gewisse Blindheit dafür, daß sie sich ja nicht nur auf veraltete und enttäuschte Ideale beziehen, sondern auch auf einfache, nachweisbare Sachverhalte. Es ist zum Beispiel nicht zu leugnen, daß das menschliche Wissen von Naturzusammenhängen im Lauf der Jahrhunderte, und nicht zuletzt auch im gegenwärtigen Jahrhundert, Fortschritte gemacht hat. Aber sowie dieses Wort ausgesprochen wird, kann man häufig eine automatische Reaktion der Abwehr beobachten. ‘Mag sein’, ist die Antwort, ‘aber sind die Menschen durch diese Fortschritte glücklicher geworden?’ Die Tatsachenfrage wird unwichtig gegenüber der Enttäuschung, an die der Fortschrittsbegriff erinnert“[20], lautet der m.E. nach wie vor aktuelle Befund Elias', und an anderer Stelle schreibt er: „Ob man von der Entwicklung der sozialen Einrichtung des Zeitbestimmens oder von der Entwicklung der Gesellschaftüberhaupt spricht, der Begriff der ‘Entwicklung’ wird oft mit dem alten Aufklärungsidealbild des ‘Fortschritts’ in einen Topf geworfen. Er scheint die Vorstellung zu vermitteln, daß jede spätere Stufe von höherem moralischen Wert oder ein Schritt zu größerem Glück sei als jede frühere Stufe. Man unterscheidet dieses Wunschbild des Fortschritts oft nicht scharf genug von einem wissenssoziologischen Denkansatz, der sich auf faktisch nachweisliche Fortschritte oder, je nachdem, auch auf Rückschritte, etwa der Differenzierung oder der Synthese, richtet. Man mag sich etwa an Darwins Zugang zu dem Problem der biologischen Evolution erinnern. Es ging Darwin nicht darum, ob Amphibien moralisch besser als Fische,Säugetiere besser als Reptilien oder Menschen glücklicher als Affen sind; es ging ihm einfach um die Frage, wie und warum verschiedene Arten zu dem wurden, was sie nun sind.“[21]
Übrigens - und das sei zur weiteren Stützung der Elias'schen Thesen hier angemerkt - stößt Michel Foucault in das gleiche Horn, wenn er in einem Interview, das er 1969 mit Paolo Caruso führte, gleichfalls die Idee, die Gesellschaft habe den Zweck, die Menschen glücklicher zu machen, entschieden verwarf, und als Ausgeburt eines bornierten Humanismus verwarf:
"Wenn wir über das Problem des Humanismus zu diskutieren scheinen, beziehen wir uns eigentlich auf ein einfacheres Problem, auf das des Glücks. Ich behaupte, daß sich der Humanismus zumindest auf der politischen Ebene als jede Einstellung definieren läßt, derzufolge es Zweck der Politik ist, das Glück herbeizuführen. Meiner Überzeugung nach kann aber der Begriff des Glücks nicht mehr gedacht werden. Das Glück existiert nicht und das Glück des Menschen existiert noch weniger... Der Organismus funktioniert. Wozu existiert er? Um sich zu reproduzieren? Um sich am Leben zu erhalten? Keineswegs. Er funktioniert. Er funktioniert in sehr zweideutiger Weise: zum Leben, aber auch zum Sterben; es ist ja wohlbekannt, daß sich das Funktionieren des Lebens ständig abnutzt, daß gerade das Funktionieren des Lebens zum Tod führt. Also funktioniert eine Spezies nicht für sich selbst, und auch nicht für den Menschen oder zur größeren Ehre Gottes; sie beschränkt sich darauf, zu funktionieren. Dasselbe gilt nun auch für die menschliche Spezies... Wir aber drehen die Dinge um. Wir sagen: weil wir einen Zweck haben, müssen wir unser Funktionieren kontrollieren. In Wirklichkeit können nur aufgrund dieser Kontrollmöglichkeit all die Ideologien, Philosophien, Metaphysiken, Religionen entstehen. Verstehen Sie, was ich sagen will? Die Möglichkeit der Kontrolle führt zur Idee des Zwecks. Tatsächlich hat die Menschheit keine Zwecke. Sie funktioniert, sie kontrolliert ihr Funktionieren und bringt ständig Rechtfertigungen für diese Kontrolle hervor. Wir müssen uns damit abfinden, daß es nur Rechtfertigungen sind. Der Humanismus ist nur eine von ihnen, die letzte.“[22]
Aber auch wenn Elias mit dem für ihn typischen Nachdruck vorschlug, den Terminus „Fortschritt“als Kategorie zur Deskription von Tatsachen im wissenssoziologischen Sinne zu benutzen, konnte er sich doch - er schien dies zu spüren - damit im Grunde nicht durchsetzen. Ein Werturteil klebt dem Begriff scheinbar unauslöschlich an. Mehr als die nüchterne Beschreibung der beobachtbaren realen Entwicklung soll der Fortschrittsbegriff die Hoffnung symbolisieren, der Zivilisationsprozeß nehme einen wünschenswerten Gang. Diese optimistische Auffassung „ist umstritten. Wie früher schon wird dieses Fortschrittsdenken noch immer durch kirchliche Kreise in Frage gestellt, dazu kommen die eher als konservativ zu wertenden romantischen Individualisten und diejenigen linken Opponenten, die Fortschrittsdenken fälschlicherweise für eine Erfindung des Kapitalismus halten“[23].
Vielen erscheint der Verzicht auf den Fortschritt geradezu ideal. Dies kommt in der paradoxen Forderung nach einem „Null-Wachstum“ zum Ausdruck, womit wohl eine vermeintlich elegantere Formulierung als „Stillstand“ gewählt wurde.
Auch wenn Mannheims Abqualifizierung fortschrittsfeindlicher Strömungen in ihrer Radikalität nicht mehr ganz aktuell erscheinen mag, verdient m.E. seine Bestimmung ihrer soziokulturellen Basis auch gegenwärtig Beachtung; für ihn ist die Zivilisationskritik „motiviert von der Angst um eigene Privilegien; bestenfalls ist sie Ausdruck einer gewissen poetischen Sensibilität“[24].
Die Anpassungsprobleme an die als rasant empfundenen zivilisatorischen Entwicklungen führen zur „optischen Täuschung“. Weil die ständigen Neuerungen nicht adäquat verarbeitet werden können, geraten das subjektive Zeitempfinden und die „objektive Zeit“ - also die gesellschaftlichen Anforderungen an individuelle Zeitgestaltung - aus dem Gleichgewicht.
5.3 Zeitmythos und Warenproduktion
Der Frage ist nachzugehen, warum der Mensch mit einem selbstgeschaffenen sozialen Symbol, eben der Zeit, in Konflikt gerät. Diese Gleichgewichtsstörung als Resultat einer langfristigen Entwicklung zu erkennen, benennt noch nicht die Ursachen, die diese Entwicklung vorantreiben.
Schon in der Frühphase der Entwicklung eines Zeitsystems sind die heutigen uns bekannten Probleme der Zeitgestaltung in nuce angelegt, treten aber (noch) nicht sichtbar zutage. Die Zeit, eben weil menschengemacht, vermag ihre Funktionen als Orientierungsinstrument und als Sozialsymbol so lange relativ ungebrochen zu erfüllen, wie ihr Anpassungsprozeß nicht allzu deutlich vor die individuellen Bedürfnisse und hinter die gesellschaftlichen Erfordernisse gerät.
„So kann man etwa seine Tätigkeiten mehr oder weniger gemäß den Regungen der eigenen animalischen Triebe ‘zeiten’: man ißt, wenn man Hunger hat, und legt sich schlafen, wenn man müde ist. In unserer Art von Gesellschaft werden diese mehr animalischen Zyklen gemäß einer differenzierten sozialen Organisation reguliert und strukturiert, die die Menschen bis zu einem bestimmten Punkt zwingt, ihre physiologische Uhr an einer sozialen Uhr auszurichten und zu disziplinieren"[25]. „Es gibt also Stufen in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften, auf denen Menschen kaum irgendwelche sozialen Zeitbestimmungsprobleme kennen... Das Szenario wandelt sich merklich, wenn Menschen dazu übergehen, ihre Nahrungsmittel aktiv zu produzieren“[26].
Spätestens hier treten die Probleme mit der Zeit ins Bewußtsein, wenngleich in den frühen, von Ackerbau und Viehzucht geprägten Gesellschaften das Zeitgewissen einen nicht annähernd so umfassenden Charakter hatte wie bspw. für uns. Zeitsysteme haben sich jedenfalls früher als die Produktionssysteme herausbilden können, a posteriori läßt sich sagen: müssen. Ganz ähnlich wie von Elias wird die Entwicklung der Zeit von Dux betrachtet. Ohne abermals auf seine weiter oben recht ausführlich problematisierte Annahme einer ontogenetischen Konstitution einzugehen, sei Dux´ ansonsten präzise Darstellung des Entstehens der Zeit im folgenden zustimmend zitiert:
„Der Umstand, daß der Bildungsprozeß der Zeit mit dem Anfang jeder Ontogenese erfolgt, ist eine geschichts- und kulturresistente Konstante ... Immer gilt es, einen unfertigen Organismus an die Außenwelt anzuschließen und dabei sowohl seine eigene Dynamik als auch die der Außenwelt zu organisieren. Diese Bedingungen sind so ... elementar, daß die Unterschiede der Außenwelt, der Sozialwelt vor allem, nicht ins Gewicht fallen. Und weil die Bedingungen allerwärts gleich sind, ist es der Anlauf im Bildungsprozeß der Zeit ebenfalls[27].
Im Laufe der Zeit fallen allerdings die regionalen Unterschiede der Sozialwelt unübersehbar ins Gewicht, was nicht zuletzt auf die verschiedenen Entwicklungsgeschwindigkeiten der - in der Regel unverbundenen - Produktionsprozesse zurückzuführen ist. Die zunehmende globale Integration des Produzierens und Wirtschaftens beschleunigt den Trend zu weltweiter Gleichzeitigkeit, der mit den bestehenden Differenzen der diversen Sozialwelten in - mitunter schroffe - Widersprüche gerät. Setzt doch schon die Entwicklung der Produktion in einem einheitlichen Wirtschafts- und Kulturgebiet permanent das Zeitsystem unter einen Anpassungsdruck, dem die Zeit als Sozialsymbol in ihrer Orientierungsfunktion nicht umstandslos Rechnung tragen kann. Vereinfacht ausgedrückt: der Produktionsprozeß braucht eine relativ schnelle „soziale Uhr"; das Symbol der gesellschaftlichen Verhältnisse, also die Zeit, hinkt hinter der realen Beschleunigung des von ihr Abzubildenden regelmäßig hinterher. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Bloch) ist Ausdruck für den letztlich durch den Produktionsprozeß ausgelösten sozialen Anpassungsdruck auf dieIndividuen (aber auch bspw. auf „rückständige“ soziale Gemeinschaften etc.). Dafür hat die Menschheit eine große Anzahl von Zeugnissen hinterlassen, weil die gesetzmäßig auftretenden Zeitbestimmungsprobleme und die damit notwendigerweise verbundenen Schwierigkeiten des Zeitbewußtseins und der Zeitgestaltung schon seit den Anfängen bewußten Produzierens aufgetreten sind (wobei natürlich hier, Spitzfindigkeiten vorwegzunehmen, der „Anfang der Anfänge“ sich, wie man so sagt, „im Dunkel der (Vor-)Geschichte verliert“). In den heutigen Gesellschaften erscheinen die Zeitbestimmungsprobleme vordergründig als weitgehend gelöst. Dies sind sie im Grunde ebensowenig wie die „Kulturprobleme der kapitalistischen Wirtschaftsweise“, wie Max Weber das Phänomen bezeichnete, daß sich der Abstand zwischen dem was wir „Zeit“ nennen, und dem realen Punkt der sozialen Entwicklung exponentiell vergrößert. Hermann Schwengel sagt über das Phänomen einer losgelassenen technischen Entwicklung das, was wir in diesem Zusammenhang auch über das Phänomen der "modernen" oder auch „kapitalistischen“ Zeit sagen könnten (Technik und Zeit sind ja verschiedene Ausdrucksformen desselben "Gesellschaftssyndroms"):
„Wenn die `technische Entwicklung´ in ihrer ganzen Unbestimmtheit wirklich produktiv-definierende Instanz wäre, so ist das ein Hinweis auf ein Zerfallen homogener Klassenpraxis und institutioneller Differenzierung der Subsysteme, einer Praxis der zerrissenen Mittelklassen bei Aussetzung des Klassenkampfes. Wenn ein mehrfach gegliedertes uneinheitliches Etwas wie die technische Entwicklung dominiert, so ist eine herrschende Klasse und eine alternative soziale Bewegung abwesend, und ihr Fehlen schafft einen Raum der Nicht-Vermittlung des Gesellschaftlichen, der durch `technische Entwicklung´, wissenschaftliche Kultur und folgenloses politisches ‘muddling through’ besetzt werden kann. Die konservative Kritik hat diesen leeren Mittebildungsprozeß häufig genauer erkannt als die kritischen Theoretiker. Der Dualismus von Entsinnlichung und Verbegrifflichung sowie Primitivisie
rung in den Denkformen des Menschen, die Gehlen darstellt ... spiegelt die monströsen Modelle der institutionalisierten leeren Gesellschaftsbildung wider.“[28]
Beide Begriffe, „Kapitalismus“ und „Zeit“, bezeichnen nicht die Macht unsichtbarer Subjekte, sondern den - an Kraft inzwischen die außermenschlichen Naturgewalten weit übertreffenden - Einfluß der menschlichen Interdependenzketten, die jedoch auch - siehe Schwengel - zu leerlaufenden Gesellschaftsmaschinen mutieren oder noch schärfer: degenerieren können. Einer solchen stetigen Gefahr muß sich ein Politikwissenschaftler permanent bewußt sein.
Aus dem Mythos hat sich die Zeit entwickelt. Die Menschen haben mit der Entwicklung dieses Instruments beginnen müssen, als sie sich als soziale Wesen irreversibel vor die Aufgabe gestellt sahen, bewußt und, wenn man so will: planmäßig auf die sie umgebende Außenwelt einzuwirken. Das Zeitsymbol ist das Instrument, das zur Erledigung jeder Aufgabe benötigt wird; denn die Zukunftsorientierung reicht nur soweit, wie die Erinnerung an die Vergangenheit verarbeitet wird. Unbestreitbar liegt die Vergangenheit tot vor uns. Schon Agathon aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung wird die Bemerkung zugeschrieben, nicht einmal Gott könne sie ändern. Doch die aus ihr gewonnenen Erfahrungen ermöglichen allererst ein als bewußt und planmäßig zu bezeichnendes Verhalten.
„In bezug auf die Zeit ist das Merkmal des Menschseins die Fähigkeit, das Langzeitgedächtnis in den Dienst weitreichender Pläne zu stellen, um so möglichen und unmöglichen zukünftigen Herausforderungen begegnen zu können. Solches zeitorientiertes Verhalten läßt sich nicht aus Schädelgrößen und -formen, wohl aber aus kulturellen Daten herleiten ... In Frankreich gibt es ein bemerkenswertes Wandgemälde aus dem späten Paläolithikum ... Aus der Zeichnung läßt sich auf ein hochentwickeltes Zeitgefühl der Menschen schließen"[29].
Die Menschen jener Zeit verfügten über Sprache und Zeitgefühl, nicht jedoch über Schrift, und deshalb konnten sie nicht auf einen relativ stabilen Zeitbegriff beziehen. Denn die Geschichten, die das Neben-, Mit- und In-Einander verschiedener Veränderungsstränge eingefangen hatten, konnten nicht schriftlich gespeichert werden. Folglich mußte schon weit vor der Entwicklung der Schrift Mechanismen gefunden werden, die Geschichten über die stetigen Veränderungen wenigstens einigermaßen unverändertund unverfälscht in die Nachfolgegenerationen zu transportieren.
Leroi-Gourhan macht darauf aufmerksam, daß schon vor der Erfindung der Schrift sich unterschiedliche gesellschaftliche Organisationsweisen in unterschiedlichen bildlichen Darstellungen Ausdruck verschafften: „Der nomadische Jäger-Sammler erfaßt die Oberfläche seines Territoriums über die Wege, auf denen er es durchwandert; der seßhafte Bauer konstruiert die Welt in Kreisen, die konzentrisch um seinen Speicher angeordnet sind.“[30] Über die Höhlenzeichnungen von Lascaux schreibt Leroi-Gourhan: „Im Schein der Lampe ordnen sich die Figuren von Lascaux nicht zu einem flächenförmigen Zusammenhang, sondern entlang einer Bahn; sie sind miteinander durch das Band eines Themas verknüpft, dessen Sinn wir nicht kennen, dessen Ablauf sich aber von Wand zu Wand wiederholt bis hin zu den Rhinozerosfiguren im Grund der Höhle.“[31] Neben den von Fraser bereits angeführten Zeichnungen sind hier in erster Linie die Mythen zu nennen. In ihnen wurden Zeiterfahrungen akkumuliert, um einen Zeitbegriff etablieren und das Zeitbewußtsein stabilisieren zu können. Gendolla schreibt darüber zutreffend:
„Es ist die Entstehung der Zeit aus der Unzeit, die so beschrieben wird, eine Sprachgeburt. Der Mythos löst den Konflikt, den jede Sprache stellt: daß etwas vor ihr sein muß, was doch erst durch sie unterschieden wird, indem er ein `Aus sich selbst' erfindet. Das Vorher und Nachher, Ursache und Wirkung werden aufeinander zurückgebogen, in einen Kreis zusammengebunden"[32]. Deshalb ist die zyklische Zeit die erste oder früheste Zeit, mithin also die weitaus ältere Zeitvorstellung als die lineare.
Leroi-Gourhan unterscheidet, analog zur Psychoanalyse, drei Formen menschlichen operativen Verhaltens, die ihrerseits wiederum Rückwirkungen haben auf die Ausgestaltung des sozialen Gedächtnisses des Menschen; schon die „Erfindung“ der zyklischen Zeit ist damit also als hochkomplexe kulturelle Leistung zu verstehen:
„Wie jede Unterteilung eines Kontinuums ist die Unterscheidung von drei Ebenen im operativen Verhalten willkürlich, sie entspricht jedoch der psychologischen Unterscheidung des Unbewußten, Vorbewußten und Bewußten, die ihrerseits drei Funktionsniveaus des neuro-psychischen Apparats des Menschen entspricht ... Die psychologischen Termini lassen sich auch auf technische Operationen anwenden, aber sie bringen eine Reihe von Implikationen mit sich, die wir hier besser nicht einführen, und deshalb verwenden wir zur Charakterisierung der praktischen Operationen lieber die Ausdrücke automatisch, maschinenförmig und luzide.“[33] Über die Bildung des kollektiven Gedächtnisses schreibt Leroi-Gourhan dementsprechend: „Die Organisation des kollektiven Gedächtnisses ist verschiedenartig, je nachdem, ob es sich um Operationen handelt, die über die maschinenförmigen Ketten hinausgehen, wie es bei der saisonalen Wiederholung bäuerlicher Arbeiten, beim Ablauf eines Festes, dem Bau eines Hauses, der Durchführung eines kollektiven Fischzuges oder einer Jagd der Fall ist. Je nach der Dauer der Periode kommt der Intervention jenes Dispositivs, das die Operationsfolgen im kollektiven Gedächtnis verankert, größere oder geringere Bedeutung zu. In allen Fällen werden die auszuführenden Handlungen von der Sprache gestützt, und alle schriftlosen Gesellschaften besitzen ein Spektrum von Fixierungsmitteln in Gestalt feststehender Redewendungen, Vorschriften und Rezepte, deren Bewährung oft auf dem Gedächtnis einiger Individuen beruht. Die periodischen Operationen, und insbesondere die langfristigen, gehen über die maschinenförmige Fixierung hinaus und bilden einen der Züge, durch die sich die menschliche Gesellschaft am radikalsten von der ganzen übrigen zoologischen Welt unterscheidet.“[34]
Leroi-Gourhan spricht bereits für die Bilder von Lascaux, also für die Zeit des „paläolithischen Mittelalters“, explizit von Mythographie: „In Wirklichkeit handelt es sich hier um Mythogramme, die der Ideographie näherstehen als der Piktographie und der Piktographie näher als einer auf Abbildung bedachten Kunst.“[35]
Richten wir, um die Entwicklung der Zeit in den Blick zu bekommen, nochmals die Augenauf Gendollas Konzept der „Sprachgeburt“. Es konstruiert keinen „Anfang“ durch eine - unbegreiflich bleibende - Konstitution, sondern macht nachvollziehbar, wie sich in der Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Außenwelt im Prozeß der Sprachbildung Begriffe relativ verselbständigen, auf zunächst geringer Synthesestufe, damit überhaupt Geschichten auf dem den Bedürfnissen erforderlichen Syntheseniveau erzählt werden können.
Die komplexen Probleme jener „Sprachgeburt“ erklären die „geregelte Struktur des Mythos, seine doppelte Logik, Zeit und Nichtzeit, das Vergängliche und das Ewige in einem Erzählakt zu verschmelzen"[36]. Indem sich der „Sinn ... vom Sprachuntergrund ablöst, auf dem er anfänglich lag"[37], „erzählt der Mythos immer auch seine eigene Entstehung: die Geschichte der Zeit. Wenn die Geschichte einen Anfang hat, damit sie oder irgendeine Geschichte anfangen kann, muß, auch wenn sonst noch gar nichts da ist, zumindest die Zeit da sein, in der sie anfängt. Von dieser, dem Ungeschiedenen, muß sie sich unterscheiden"[38].
Eine etwas andere Darstellung als Gendolla wählen Toulmin und Goodfield in ihrem Buch „Entdeckung der Zeit"; die zentralen Begriffe sind ein wenig anders definiert, eine etwas spätere Entwicklungsstufe scheint ins Augenmerk getreten zu sein, und doch: auch bei ihnen wird die zentrale Bedeutung des Mythos für die „Genese“ des Begriffs und Bewußtseins von Zeit deutlich, wenn sie ausführen: „Die Menschen von damals stellten tatsächlich Fragen über den Ursprung aller Dinge. Sie konnten sich auf die Dauer nicht mit der Zeitspanne begnügen, die sie - sei es durch Kenntnis oder in der Fantasie - mit Hilfe ihrer überlieferten Dokumente und Legenden überblickten. Sie sprengten also die Grenzen dieser Zeitspanne und gelangten so über den Bereich der Legenden hinaus in eine andere, wenn auch noch immer wolkenverhangene Region: in das Reich der Mythen"[39].
Das Toulmin/Goodfield-Zitat macht deutlich, daß diese auch inhaltlich eine andere Auffassung von der „Geburt“ der Zeit vertreten als Gendolla. Diese Differenzen sollen nicht diskutiert werden. Für wichtiger halte ich in diesem Zusammenhang vielmehr die Übereinstimmungen in zweierlei Hinsicht: die Entwicklung und Entfaltung der Zeit läßt sich ohne eine Anfangskonstruktion darstellen, sie ist aber gleichzeitig nicht denkbar ohne eine mehr oder minder systematisierte Mythologie, ohne die Evolution des Erzählens. Was weiter oben über die (zunächst Nahrungsmittel-) Produktion gesagt wurde, gilt auch für das gesprochene Wort. Beide Fähigkeiten müssen die Menschen notwendig angeeignet haben, bevor sie den Versuch unternehmen können, die Veränderungssträhnen in ihrem Umfeld bewußt zu rekapitulieren und die die anfangs- und endlose Ereigniskette chronologisch zu erfassen. Durch Sprache und Technik erlangten die damaligen Menschen die Qualifikation, die Zeit zu bestimmen, wodurch sie ihre Ohnmacht gegenüber der außermenschlichen Natur gewaltig reduzieren konnten.
"Wir können uns ... in die Menschen früherer Zeiten verständnisvoll einfühlen, nicht dagegen in Mücken oder Gesteinsschichten"[40], stellen Toulmin / Goodfield fest. Häufig genug fällt uns dieses Hineindenken in die frühen Menschen allerdings außerordentlich schwer, sind wir doch gewöhnt, die Welt in Begriffen ungleich höherer Synthesestufe wahrzunehmen. Diese zur Gewohnheit gewordene Fähigkeit ist erlernt und konnte nur erlernbar werden auf der Grundlage des akkumulierten Wissens aller Generationen vor uns. Die heutigen Menschen sind weder intelligenter noch sonstwie „besser“ als ihre Ahnen, sondern einfach nur später[41]. Sie wuchsen in die anfangs- und endlose Abfolge von Gesellschaften hinein, die sich durch permanentes Wachstum sozialen Wissens auszeichnet. Deshalb können wir gegenwärtig von den gesicherten Resultaten dieses Prozesses profitieren, was früheren, geschweige denn frühesten Menschen noch verwehrt war.
Diesen Gedankengang stellt Elias der Geschichte des Vergessens entgegen, die seines Erachtens neben einer Neigung zur Überheblichkeit für uns später Geborene eine weitere folgenschwere Konsequenz nach sich zieht: „Die Schwierigkeit ist, daß die Mitglieder der späteren Gesellschaften nicht nur unfähig sind, die Mitglieder früherer Gesellschaften mit geringeren Zeitbestimmungsbedürfnissen zu verstehen; sie sind auch unfähig, sich selbst zu verstehen"[42].
Diese „Geschichte des Vergessens“ und deren Konsequenz, nämlich die Unfähigkeit der Vergessenden, „sich selbst zu verstehen“, fällt deutlich ins Fachgebiet der Psychologie, dem wir uns nun zuwenden.
5.4 Phylogenese und Ontogenese der Zeit
Die „Zuständigkeit“für das Zeitphänomen hat sich allmählich von der Philosophie zur Psychologie verschoben; jedenfalls findet sich in diesem Fachbereich die mit Abstand größte Zahl an Veröffentlichungen zum Thema Zeit. Sucht man Aussagen zum Zeitbewußtsein, wird die Psychologie die Wissenschaft sein, in der man sich zunächst orientieren kann.
"Es wäre naheliegend zu denken, daß diese Wissenschaft einen Beitrag zur Erhellung der Unterschiede im Zeiterleben und in der Zeitregulierung des Verhaltens von Mitgliedern verschiedener Gesellschaften leisten könnte. So aber, wie sie gegenwärtig in akademischen Institutionen gelehrt wird, ist die Psychologie hier von geringem Nutzen"[43], urteilt Elias, der die Ursache hierfür in der auch gegenwärtig noch durchaus üblichen Struktur oder Kompetenzverteilung des universitären Fachbereiches sieht. Man stehe „vor einer etwas seltsamen Lage: die Individualpsychologie ist eine Naturwissenschaft, die Sozialpsychologie ist eine Sozialwissenschaft“[44]. Die Entwicklung der Zeit selbst ist ein treffendes und bezeichnendes Beispiel dafür, daß sich die - auch der philosophischen Denktradition geschuldete - dichotomische Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft verbietet.
Es ist darauf hingewiesen worden, daß Sprache und Technik den Boden bildeten, auf dem das Zeitsymbol gedeihen konnte, anders ausgedrückt: Produktion und Kommunikation sind mehr als nur Indikatoren der Menschwerdung, sie selbst sind es. Castoriadis formuliert es gleichsam „psychologischer“, wenn er die Entwicklung von Gesellschaft (und damit Zeit) auf das Wechselspiel von gesellschaftlicher und individueller Einbildungskraft zurückführt, wobei sozusagen die gesellschaftlichen Institutionen "vermittelnd" eingreifen:
„Das radikale Imaginäre existiert als Gesellschaftlich-Geschichtliches und als Psyche-Soma. Als Gesellschaftlich-Geschichtliches ist es offenes Strömen des anonymen Kollektivs; als Psyche-Soma ist es Strom, von Vorstellungen/Affekten/Strebungen. Was im Gesellschaftlich-Geschichtlichen Setzung, Schöpfung, Seinlassen ist, nennen wir gesellschaftliches Imaginäres im ursprünglichen Sinne oder instituierende Gesellschaft. Was in der Psyche-Soma-Einheit Setzung, Schöpfung, Seinlassen für die Psyche-Soma-Einheit ist, nennen wir radikale Imagination.“[45]
„Die Entstehung des Einzelmenschen als individuelles Subjekt ist sehr wahrscheinlich erst ein besonderes Ergebnis der Ökonomisierung, auch des Bewußtseins im Prozeß der Warenproduktion, wo das homogene Gesamtbewußtsein endgültig `atomisiert' werden mußte, um eine Austauschbarkeit zu erreichen“[46]. Auch ich neige der Auffassung zu, daß die doppelte Bedeutung des Verbs „handeln“eine tiefe gemeinsame Wurzel widerspiegelt, daß die Entwicklung der Handlungsfähigkeit letztlich mit der von Austauschbeziehungen einhergeht.[47]
Daß wir es hier eher mit einer Hypothese als mit gesichertem Wissen zu tun haben, ist zutreffend; dennoch soll hier nicht der Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Zeitbewußtsein und Warenbeziehungen untersucht werden, da unabhängig davon unstreitig sein dürfte, daß die Zeit erlernt werden mußte, jedenfalls alles andere als eine menschliche Sinneseigenschaft „a priori“ bzw., was dasselbe besagte, „angeboren“ ist. Piaget drückt dies in der „Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde“ so aus: „Es besteht keinerlei Grund anzunehmen, daß die ursprüngliche Zeit aus einer inneren Quelle stamme, daß sie unabhängig von den Gegenständen ihrer Handlung konstruiert werde oder, a fortiori, daß sie ‘gegeben’ sei“[48].
Was aber immer die Herkunft des Zeitbewußseins beim Menschen sein mag, eines jedenfalls schein festzustehen: ohne ein „zeitliches Zuhause“ kann sich kein Zeitbewußtsein, schon gar kein prozeßhaft-relationistisches Zeitverständnis entfalten bzw. stabilisieren.
„Um eine zeitliche Perspektive zu haben, aus der ein Ereignis zu einem Zeitpunkt als gegenwärtig erscheint, um zum nächsten Zeitpunkt als vergangen zu gelten, muß man sich selbst in ständig wechselnden zeitlichen Relationen zu den Ereignissen der Welt repräsentieren können. Man muß, mit anderen Worten, eine Form von Selbstbewußtsein haben“[49]. Dies ist, ebensowenig wie das Zeitbewußtsein, einem Menschen „a priori“gegeben, der „homo clausus“ kann es sich nicht „ausdenken“, vielmehr - eine psychologische Binsenweisheit: es entwickelt sich im Stoffwechsel des Individuums, nämlich in der Interaktion mit der Außenwelt, vornehmlich also im Zusammenleben mit anderen Menschen.
Selbst- und Zeitbewußtsein werden angeeignet. „P. Janet wies ... darauf hin, daß die Psychologie etwas Besseres zu tun habe, als sich auf das Studium des Denkens zu konzentrieren: Sie muß von der Handlung ausgehen. Die einzig relevante Frage sei ‘Welches sind unsere Handlungen bezüglich der Zeit?’ Für ihn ist der erste auf die Zeit bezogene Akt, wobei, ebenso wie beim Warten, das Gefühl der Dauer entsteht. Dieses Gefühl ist kein Handlungsimpuls, sondern eine flexible, aus der Notwendigkeit, sich unwiderruflichen Handlungen anzupassen, entstandene Regulierung der Handlung“[50]. Nach der Bildung dieses Sinns für Dauer entsteht beim einzelnen Mensch (bzw. entstand bei den frühesten Menschen) ein zyklisches Zeitbewußtsein, bspw. durch Integration in den Lebensrhythmus der Alltagszeit. Sind diese Zeiterfahrungen zu einem stabilen Bewußtsein verarbeitet, ist der Weg frei zur Öffnung linearen Zeitdenkens.
„Jean Piaget hat die Entwicklung des Zeitsinns bis zu diesem wichtigen Punkt erforscht, indem er in 15 aufeinanderfolgenden Jahren je eine Untersuchung dem Studium des Zeitbegriffs widmete, nachdem er auf einer philosophisch-psychologischen Tagung auf die Frage gestoßen war, ob die subjektive Anschauung der Zeit unmittelbar gegeben sei oder sich erst im Laufe der Entwicklung bilde. Zu den Ergebnissen gehörte vor allem die Feststellung, daß innere Dauer nur die Zeit der eigenen Handlungen ist, daß (wie in frühesten Entwicklungsphasen die Menschheit, so auch) der einzelne den Zeitbegriff erst in Verbindung mit seinen Umweltbeziehungen Im Handeln schafft. Zwischen Zeitbewußtsein und Aktivität besteht also von Anfang an ein innigster Zusammenhang. Vereinfachend könnte man sagen: Bewegungen und Handlungen konstituieren in einem langen Prozeß das Zeitbewußtsein, anschließend ist es das Zeitbewußtsein und die Zeitperspektive, wodurch das Handeln mitmotiviert und geformt wird“[51].
Piagets Arbeit, die Wendorff hier referiert hat, darf als die bedeutendste auf dem Gebiet der Entwicklung des Zeitbewußtseins gelten. Eine Relativierung dieser Forschungsergebnisse konnte ich nur bei Schmied finden, der anmerkt: „Da in vielen Kulturen etwa die physikalische Zeit, der der größte Teil der Darlegungen Piagets gewidmet ist, von geringerer Bedeutung ist oder gar keine Rolle spielt, werden diesbezügliche Operationen auch kaum oder überhaupt nicht vorkommen. Piagets Konzept in `Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde´ kann als Beschreibung tatsächlichen Verhaltens nur für den westlichen Kulturkreis Geltung beanspruchen“[52]. Ausgehend davon, daß Piaget gleichsam „eurozentrisch“ vorgeht, könnte man freilich die Kritik an ihm auch anders akzentuieren: man hat Freud oft vorgeworfen, daß seine Konstruktion des „Ödipuskonflikts“ nur für die Sozialisationsbedingungen Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts im Wiener Bürgertum „zulässig“ sei; daraus könne jedoch keine anthropologische Grundkonstante für die Sozialisation von Kleinkindern generell gemacht werden. Ähnlich könnte man bei Piaget argumentieren: Piaget interessierte sich für Konstanten in der kognitiven Entwicklung von Kindern. Ob diese Konstanten jedoch nicht selbst der historischen Variabilität unterliegen, je nach Beschaffenheit der Sozialisationsbedingungen, ist eine Frage, die zunächst offen bleiben muß.
Dies dürfte sich von selbst verstehen; ob dadurch jedoch die Bedeutung der Konzeption Piagets so geschmälert wird wie von Schmied, ist zweifelhaft. Es ist zwar richtig, daß für die Menschen früher oder andernorts die „physikalische Zeit“ nicht so herausragend, man möchte fast sagen: übertrieben, wirkte und wirkt wie für die westliche Zivilisation seit der Aufklärung; umso mehr beeinflußt(e) jedoch die relativ unvermittelte Naturbeobachtung auf der Basis wesentlich größerer Abhängigkeit von der nicht-menschlichen Natur den Bildungsprozeß des Zeitbewußtseins. Die empirischen Befunde Piagets sind freilich nicht allgemeingültig; die „Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde“verläuft - gewiß stets in Interdependenz zu sozialen Spezifika der unmittelbaren Außenwelt wie bspw. Familiensituation, Klassenzugehörigkeit etc. - in allen Kulturkreisen im Grunde gleich, und zwar bis zu dem Punkt, an dem die zivilisatorischen Prozesse der jeweiligen Großgruppen auseinanderlaufen.
Hier wird die Auffassung vertreten, „daß sich die Entwicklung des Zeitsinns der menschlichen Spezies in ähnlichen Bahnen vollzogen hat wie heute beim Säugling"[53]. Die Ontogenese nimmt in aller Regel einen der Phylogenese vergleichbaren Verlauf, wobei man allerdings die Parallelen nicht überstrapazieren sollte. Dabei handelt es sich bei der Frage, ob es sich bei unseren Ahnen, die vor der Entwicklung des Zeitsinns gelebt haben, bereits um Menschen handelte oder noch nicht, um eine müßige Suche nach einem Anfang.[54] Entscheidend ist, daß jede Person von Geburt an alle während der Menschheitsentwicklung angeigneten Fähigkeiten potentiell in sich trägt; wie weit sie quantitativ und qualitativ repräsentiert werden können, hängt von dem Grad der ontogenetischen Abbildung der Phylogenese ab, bzw. davon, inwieweit das heranwachsende Individuum Umweltbedingungen vorfindet, die es ihm ermöglichen, das stammesgeschichtlich geworbene und genetisch fixierte Potential auch individuell zur Entfaltung zu bringen. Denn das beste genetische Potential nützt wenig bis nichts, wenn es nicht die Chance zur Entäußerung gibt.
Mit ihrem selbstgeschaffenen Symbol „Zeit“ geraten die Menschen - möglicherweise zunehmend - in Schwierigkeiten. Es scheint, als sei es das sozial unverzichtbare Orientierungsinstrument Zeit selbst, das Verwirrung stiftet. Auch in dieser Hinsicht ist Vorsicht geboten, nicht dem wieder und wieder reproduzierten Zeitmythos aufzusitzen. „Eine künftige Philosophie (und hoffentlich auch Psychologie, W.J.) wird vielleicht den Mut haben, sich selbst, wie eh, zu riskieren, um diese unintegrierbaren, einheitslosen Zeitbestimmungen, um das Zeitlabyrinth der Erfahrungen zu denken. Wir wissen seit Heidegger, daß sie erst dann über die abendländische Metaphysik hinausgelangte.“[55] Es sollte eigentlich auf der Hand liegen, daß uns die „Zeit“ selbst nicht in Unruhe versetzen kann. Beunruhigen können allenfalls von ihr symbolisierte gesellschaftliche Verhältnisse im Zusammenspiel mit der auf ihrer Linie antizipierten zukünftigen Entwicklung.
Fraser schreibt: „Durch die Entdeckung der menschlichen Zeit kranken wir dauernd an inneren Konflikten"[56]. Dies ist insofern richtig, als daß die Menschen, um ein Bild aus der christlichen Mythologie aufzugreifen, vor der „Vertreibung aus dem Paradies“ keine Probleme hatten. Diese traten irreversibel ins Leben, nachdem „die ersten Menschen an den Baum der Erkenntnis“gerührt hatten. Befreit man sich vom biblischen Mythos der „Ursünde“ oder des „Sündenfalls“, so läßt sich formulieren, daß die Entwicklung der Zeitvorstellung im Rahmen der Herausbildung von Produktion, Kommunikation und Wissensakkumulation den Prozeß der Menschwerdung markiert.
Fraser fährt fort: „Das Zeitbewußtsein des Menschen ist deshalb ein zweischneidiges Schwert. Die Fähigkeit, das Langzeitgedächtnis zur Vorbereitung zukünftiger Handlungen zu nutzen, hat unserer Art in ihrem Kampf ums Überleben ungeheure Vorteile gebracht. Andererseits zahlen wir für diese Vorteile mit einem tiefen Gefühl der Ruhelosigkeit, das in der Gewißheit von Vergänglichkeit und Tod wurzelt“[57].
Mit dem spezifisch-menschlichen Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes hat Fraser zweifellos den Parameter für die Produktion und kontinuierliche Reproduktion des Zeitbewußtseins im allgemeinen und des linearen Denkens im besonderen benannt. Da Zukunft nicht ohne Vergangenheit denkbar ist, läßt sich das Langzeitgedächtnis durchaus als Ursache der zitierten „Ruhelosigkeit“ ausmachen - jedoch nur in dieser gattungsgeschichtlichen Sichtweise. Doch man täusche sich nicht: es gibt keinen Weg zurück ins Paradies; schon gar nicht den des Vergessens, der Geschichtslosigkeit, der erwähnten „Geschichte des Vergessens“. Auf diesem Weg wird im Gegenteil die Unruhe nur noch größer, was freilich sowohl für Menschengruppen wie für Individuen gilt. Ebensowenig wie sich eine Nation, die sich ihrer Vergangenheit nicht bewußt ist, in relativer Ruhe wird stabil entwickeln können, so wenig kann Vergeßlichkeit einer Person helfen, innere Ruhe zu finden. Ein Extrembeispiel mag dies verdeutlichen, nämlich das Korsakow-Syndrom, eine psychische Störung als Folge einer hirnorganischen Schädigung, die sich u.a. im Verlust des Zeitbewußtseins manifestiert.
In dem Bericht über „eine Frage der Identität“[58] schreibt der Neurologe Sacks über einen Mr. Thompson, der unter dem Korsakow-Syndrom leidet: „Mr. Thompson ist ein Mann, der gewissermaßen in einer wahnsinnigen Verzweiflung gefangen ist. Seine Welt löst sich unablässig in ihre Bestandteile auf, verliert ihren Sinn und verschwindet - und er muß verzweifelt versuchen, ihr einen Sinn zu geben, indem er Brücken über das Chaos schlägt, das sich ständig unter ihm auftut... Er ist wie ein Mann in einem Wettlauf, wie einer, der immer etwas nachjagt, das sich ihm ständig entzieht ... Er kann nicht stehenbleiben, denn der Bruch in seinem Gedächtnis, in seinem Dasein, im Sinn seines Lebens ist nie verheilt und muß jede Sekunde aufs neue überbrückt und geflickt werden. Aber die Brücken, die Flicken sind trotz all ihrer Brillanz zu nichts nütze, denn sie sind Erfindungen, Konfabulationen, die nicht als Realität dienen können, wenn sie nicht mit der Realität übereinstimmen... Es ist das Gesicht eines Mannes, der dauernd unter einem inneren Druck steht..., sein Untergang ist die ihm aufgezwungene oder zum Selbstschutz angenommene Seichtheit seines Lebens“[59].
Vergleiche zu diesem individuellen Krankheitsbild des „Mr. Thompson“ drängen sich auf, allgemein läßt sich sagen: wenn Menschen ihr Herkommen, ihre Geschichte vergessen haben, sind sie darauf angewiesen, ruhelos in kuriose „Geschichten“ zu flüchten, also in Religionen und Philosophien, die versprechen, Sinn in der inneren Leere zu stiften. Komplemetär dazu ist die Neigung zur seichten Oberflächlichkeit zu sehen. Die Sinnlosigkeit dieser Bemühungen, Sinnlosigkeit zu verdrängen, liegt auf der Hand. Es führt kein Weg daran vorbei, die Geschichte zu erinnern - die eigene wie die der Gruppen, denen man angehört bis hin zur Gattungsgeschichte, und zwar synthetisch, nicht ausschließlich „analytisch“ im Sinne von eklektischer Aneinanderreihung einzelner Bestandteile; denn dies kann auch „Mr. Thompson".
Man muß jedoch unterscheiden zwischen der Faktizität der Vergangenheit - sie ist passiert, zweifelsohne - und ihrer unterschiedlichen Interpretierbarkeit in der Gegenwart. Außerdem ist es eine Frage der sozialen oder intellektuellen „Relevanz“ (Alfred Schütz), was hervorgehoben werden sollte, oder was vernachlässigt werden kann. Jeweilige neue Gegenwarten haben verschiedene Bedürfnisse und somit unterschiedliche Fragen an Vergangenheit und Geschichte: was noch vor einiger Zeit als interessant erschien, gilt heute als „out“.
5.5 Zeiterfahrung und Todesgewißheit
Was für den Verlust der Vergangenheit gilt, gilt in ähnlich starkem Maße für den „Verlust“an Zukunft. Man flüchtet sich in „Geschichten“, die emotional scheinbar leichter zu bewältigen sind, als die Realität, als die rationale Auseinandersetzung mit den bekannten Tatsachen. Was jedoch die Zukunft von der Vergangenheit unterscheidet, ist, daß irreversible Ereignisse erst noch anstehen, zukünftige Prozesse noch keine Tatsachen sind. Unsere notwendigen Zukunftsplanungen können wir nicht auf der Basis absoluter Prognosesicherheit durchdenken.
Und doch gibt es eine Reihe von Ereignissen, von denen wir sicher wissen, daß sie eintreten werden; dazu gehört der eigene Tod. In der Angst vor dem eigenen Tode liegt letztlich der persönliche Grund für die Suche nach etwas Ewigem, das hinter allem Wandel erhofft wird, konstatiert Elias[60], um im Anschluß daran auf die Mechanismen zu sprechen zu kommen, mit denen die Unvermeidlichkeit des eigenen Endes verdrängt oder im Extremfall gar in Abrede gestellt wird, zumindest jedoch dessen gedankliche Antizipation angenehmer gemacht werden soll: „Was Menschen nicht alles zu glauben bereit sind, nur um sich den Gedanken an die Begrenztheit des eigenen Lebens zu verdecken oder zu versüßen"[61].
Bei der Leugnung von Zeit, Tod und Vergänglichkeit spielen sich nicht selten Individuen und gesellschaftliche Institutionen wechselseitig die Bälle zu; beide Seiten können sehr erfindungsreich sein, wenn es darum geht, die Existenz der Zeitlichkeit zu leugnen und zu neutralisieren. Letztlich ist es jedoch die Institution, die das lebhafteste Interesse an einer Leugnung der Zeit hat: „Während die Gesellschaft die Individuen einerseits nötigt (bei Strafe der Psychose) im Fluß der instituierten Zeit mitzuschwimmen, gibt sie ihnen zugleich Mittel an die Hand, sich gegen die Zeit wieder zu erwehren, nämlich sie zu neutralisieren: So erscheint in der Vorstellung Zeit als ein Strom, der immer zwischen denselben Ufern strömend immer dieselben Formen anschwemmt, der ins Vergangene zurückreicht und das Künftige vorformt. Ebenso tief verankert ist die Leugnung der Zeit in der Logik der Logik selbst, ja sie ist für die Identitäts- oder Mengenlogik geradezu wesensnotwendig und bereits in der Existenz der Sprache ... verankert ... Man sieht hier, daß die Leugnung der Zeit eine Notwendigkeit der Institution als solcher ist. So sehr die Institution in einem Umbruch der Zeit entstanden ist, sich einem Umbruch der Zeit verdankt, ein Umbruch der Zeit ist, so deutlich sich in der Institution die Selbstveränderung der Gesellschaft als instituierender Gesellschaft dokumentiert, kann die Institution im rechtverstandenen Sinne nur existieren, wenn sie sich außerhalb der Zeit stellt, gegen ihr Anderswerden sperrt und die Norm ihrer unwandelbaren Identität und sich selbst als Norm unwandelbarer Identität aufstellt, ohne die sie nicht wäre. Wenn man der Institution die Fähigkeit zubilligt, ihre eigene Veränderung vorauszusehen, zu meistern und in die Hand zu nehmen, hat sie bereits ihre Veränderung als Nicht-Veränderung instituiert: Sie will über die Zeit bestimmen und weigert sich, als Institution verändert zu werden.“[62]
Doch dies, nämlich unsere Angst und unsere daraus resultierende Neigung zu Realitätsinkongruenzen, ist nur die eine Seite der Todesgewißheit. Die andere ist, daß das Wissen um die Begrenztheit der eigenen Zeit eben auch eine weitere Bedingung für die permanente Reproduktion des Zeitbewußtseins ist. Lebten wir ewig, könnten wir keinen Termindruck verspüren. Es ist dies der Doppelcharakter des humanspezifischen Wissens um das eigene Ende: einerseits behindert die im allgemeinen recht gering entwickelte Fähigkeit seiner psychischen Verarbeitung tendenziell den Realismus und damit die rationale Planungs- und Entscheidungsfähigkeit; andererseits ist das Wissen um die Vergänglichkeit
der Stachel, der die Menschen vital hält, der einen stetigen Handlungsimpuls - jenseits des Stillens primärer Bedürfnisse - sicherstellt. Die Todesgewißheit bedeutet weitaus mehr als der animalische Überlebenstrieb. „Unter den vielen Vorstellungen von der Zukunft, die gegenwärtiges Handeln beeinflussen, ist das Bewußtsein vom Tod das allgemeinste und das mächtigste. Es ist ein wesentlicher Bestandteil des reifen menschlichen Zeitsinns, dessen Gesichtskreis sich grenzenlos in Gegenwart und Vergangenheit erstreckt“[63].
Wie alles im Flusse ist, unterliegt auch die menschliche Antizipation des eigenen Endes einem Veränderungsprozeß. An dieser Stelle werfen wir einen Blick darauf, wie sich die Gestalt des Doppelcharakters der Todesfurcht im Zuge der „ursprünglichen“Entstehung des bürgerlichen Individuums wandelt. Groethuysen beschreibt in seiner „Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung“, wie im 18. Jahrhundert der Klerus die ideologische Auseinandersetzung gegen die Aufklärung geführt hat. Dabei schien im Kampf gegen die bürgerliche Säkularisierung das Erinnern an den Tod zunächst die stärkste Waffe des alten Glaubens zu sein. Doch der Schein hatte getrogen; denn letztlich stützt die psychische Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod das Selbst(bewußtsein) und mit dem Begriff der Identität individuelles Denken. Dies erläutert Groethuysen folgendermaßen:
"So dient die Anschauung der Ewigkeit letzten Endes nur dazu, daß der Mensch an sich selbst und an sein Ende denkt. Der Gedanke des Todes stellt für ihn nur eine Form der Selbstbejahung dar. Niemals fühlt er seine eigene Bedeutung so stark wie gerade dann, wenn er sich seiner Vergänglichkeit bewußt wird. Der Tod wird für ihn zum persönlichen Erlebnis ... In seiner Anschauung zieht sich gewissermaßen die Ewigkeit zusammen. Für ihn bedeutet sie die letzte Stunde. So tritt an die Stelle der ursprünglichen Anschauung der unendlichen Zeit und des unendlichen Raumes die viel konkretere Vorstellung eines Sterbenden“[64].
Am Vorabend der Französischen Revolution steht der Zeitbegriff im Zentrum der ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Altem und Neuem - wobei die starke Betonung des Todes vornehmlich auf die „Rettungsversuche“ der Jesuiten zurückgingen. Sie hatten erkannt, daß hier die schwache Stelle des sich im Prozeß der Aufklärung befindenden Bürgers lag. Im Angesicht des Todes hatte sich der neue Mensch anfangs ein wenig zuviel Unglauben zugemutet; folglich konzentrierten die Jesuiten als sensibelste katholische Intellektuelle ihre „Seelsorge“zunächst fast ausschließlich auf diesem Punkt (Memento mori). Mit unglaublichem Sadismus malten sie dem noch unsicheren Bourgeois die Höllenqualen im Falle einer negativen Gesamtbilanz in Sachen Gottgefälligkeit aus. Auch heute noch wird gesagt, daß in akuter Todesangst manch aufgeklärte Mensch seinen säkularen Überzeugungen untreu wird und er die Möglichkeit eines Lebens danach in Erwägung zieht - zumal in Hinblick auf das damit mythisch verbundene „Jüngste Gericht“.
Gegen eine Instrumentalisierung von Religion für antiaufklärerische Zwecke hilft nur die Verortung derselben im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang.
„1. Religion darf nicht in einer vom getrennten Sphäre verortet, sondern muß als spezifisch menschlich, als Produkt des Menschen, verstanden werden. Die Funktionen von Religionen sind daher sowohl historisch als auch aktuell zu untersuchen und offenzulegen. Den Rahmen der Untersuchung stellt zwangsläufig der gesellschaftliche Zusammenhang von Macht und Herrschaft dar, der in dialektischer Weise von den Herrschern und den Unterdrückten bestimmt wird.
2. Neben der Aufklärung ist politisches Handeln notwendig, um dehumanisierenden Tendenzen in der Gesellschaft entgegenzutreten. Orientierungspunkte dieses Handelns sind die Freiheitsrechte in der Tradition der Französischen Revolution.“[65]
Die Entdeckung oder hier: das intensive Reflektieren des eigenen Todes mußte jedoch schon auf mittlere Sicht zulasten der Religion gehen und - noch kontraproduktiver für die Höllenpropaganda der Jesuiten - die Hinwendung zum Diesseits und die Lebensbejahung beflügeln[66].
Erst mit seinem „Erwachsenwerden“ erlangte der Bürger allmählich die Selbstsicherheit, sich innerlich vom Höllenglauben zu verabschieden; gleichzeitig war das Bürgertum als Klasse inzwischen so selbstbewußt geworden, daß es angesichts der bevorstehenden Machtübernahme die Gesamtverantwortung für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß antizipierte und nun von sich aus auf die disziplinierende, abschreckende Wirkung des ideologischen Instruments Hölle zumindest in bezug auf die körperlich arbeitende Bevölkerung nicht mehr verzichten mochte[67].
So blieb - trotz allen Wandels in der Motivstruktur, in der sozialen Trägerschaft und auch in der inhaltlichen Ausgestaltung - die jenseitige Strafvollzugsanstalt namens Hölle integraler Bestandteil auch der „neuen“ Religion der Moderne. Sie machte die Hölle zwar „humaner“, allerdings auch bedeutungsvoller. In der bürgerlichen Gesellschaft bleibt die Drohung mit der Hölle das einzig tragende religiöse Motiv des gewöhnlichen Christenmenschen. Die Einsicht in die individuelle Vergänglichkeit ermahnt über die Metapher der Hölle zur moralischen Rechtschaffenheit. Die religiöse Konzentration auf den Tod, also auf das Jenseits - mit bunt-ausgemalter Hölle und verglichen damit äußerst blassem Himmel - spornt darüber hinaus, und dies ist hier von besonderem Interesse, ständig zu einer intensiven Nutzung des Diesseits an.
Hier ist darauf aufmerksam zu machen, daß Lebensbejahung aus Todesangst auch ein Streßfaktor ist. Sie ist der Stressor schlechthin. Die Entstehungsgeschichte bürgerlicher Ideologie liefert den Hintergrund für das vorherrschende Bild von der Zeit als knappem Gut. Die „Genese“der bürgerlichen Moderne birgt den Warencharakter der Zeit in sich. „Ja zum Leben, weil es endlich ist“ - so könnte der ideologische Kern der bürgerlichen Emanzipation auf den Punkt gebracht werden.[68]
Fortan lebt der Bürger zwar nicht jeden Tag so, als wäre er der letzte, aber die Lebensplanung - zu der das vorbürgerliche Bewußtsein freilich keinen Anlaß sieht - ist doch zugeschnitten auf die wahrscheinliche, durchschnittliche Lebenserwartung, so daß die „Etappenziele“ recht diszipliniert angesteuert werden müssen. Diese Ziele werden relativ hoch angesetzt; denn proportional zum Bedeutungsverlust der Hölle kann auch das Paradies immer weniger als Raum und Zeit zur Befriedigung bislang unerfüllter Wünsche dienen. Folglich sieht sich der bürgerliche Mensch unentrinnbar vor die Aufgabe gestellt, möglichst viel, möglichst schnell zu erledigen. Leben heißt zunehmend „erledigen“, selbstverständlich „Lebensaufgaben“, auf das das bürgerliche Individuum auf eine „Lebensleistung“ zurückzublicken vermag. Unter diesen Umständen kann es nicht verwundern, daß aufgeklärte Individuen strukturell „keine Zeit haben".
Gewiß läßt sich die chronische Zeitnot, denen die Mitglieder bürgerlicher Gesellschaften ausgesetzt sind und der sie sich selbst aussetzen, auch anders, bspw. polit-ökonomisch, erklären: doch für die Wissenssoziologie ist ein historischer Ansatz in jedem Fall geboten. Daher wurde auf Groethuysens Schilderungen zurückgegriffen, wie sich die Entwicklung der bürgerlichen Lebensanschauung damals vollzogen hat. Sie mögen dabei weniger als ein geistesgeschichtliches Protokoll für sich stehen, sondern einen Beitrag liefern zum Verständnis dessen, „was damit gemeint ist, wenn man vom sozialen Habitus oder der sozialen Persönlichkeitsstruktur individueller Personen spricht. Die fast unerbittliche Selbstregulierung, wie sie für Menschen charakteristisch ist, die in hoch zeitregulierten Gesellschaften aufgewachsen sind, ist ein Aspekt dieses sozialen Habitus von Individuen“[69]. Das allgegenwärtige Zeitgewissen ist keineswegs ein gleichsam angeborener menschlicher „Instinkt“ oder „Instinktrest“; es ist, um mit Elias zu sprechen, ebenso ein Aspekt dieses sozialen Habitus. So wie es uns ständig in uns und bei anderen begegnet, haben wir es individuell entwickelt als - mehr oder minder gebrochene - Abbildung bzw. Rekonstruktion eines langfristigen Prozesses, der im 18. Jahrhundert während der Herausbildung des bürgerlichen Individuums sowie gegenwärtig im Zeitalter der massenhaften „Verbürgerlichung“markante Etappen durchläuft.
Es laufen natürlich auch - und das ist unübersehbar geworden - besonders seit den 80er Jahren im Gefolge wachsender Massenarbeitslosigkeit gegenläufige Tendenzen ab, die der These von der Massenhaften Verbürgerlichung zu widersprechen scheinen. In der Tat ist der zynischerweise so genannte „kollektive Freizeitpark“ (Helmut Kohl) für einen Arbeitslosen eher eine Qual zu nennen; jemand, der jahre- oder jahrzehntelang an ein strenges Arbeitszeitregime gewöhnt war, wird nun plötzlich in eine Leere gestossen, wird gezwungen, die nun unfreiwillig „freie“ Zeit, die ihm im Übermaß zur Verfügung steht, auszufüllen. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit findet denn auch eine wachsende Verwahrlosung des Zeitgewissens statt (natürlich nicht bei allen, aber bei vielen), der vorgeplante Zeitablauf gerät durcheinander, der feste Tagesrhythmus bricht zunehmend auseinander etc. Was diese sozialen Verwahrlosungsprozesse für eine Gesellschaft bedeuten, die ihren zentralen ideologischen Kern noch immer in der „Arbeit“ sieht, obgleich sie immer weniger in der Lage ist, tatsächlich Lohnarbeit für alle bereitzustellen, das muß die Zukunft weisen. Jedenfalls ist die Versuchung auch heute noch groß, das überzählige Heer der Arbeitslosen als „Sozialschmarotzer“ anzusehen, die man zu „gemeinmütziger Arbeit“ zwingen müsse, was den latent totalitären Kern der Arbeitsideologie aufzeigt. Einer „Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht“ (Ralf Dahrendorf), bleibt letztlich nichts anderes übrig, als Arbeit zu simulieren, um so zu tun, als sei sie noch eine Arbeitsgesellschaft. Nur: eine solche „Arbeitsgesellschaft“ ist von ihrer eigenen „Realparodie“ dann kaum noch zu unterscheiden.
Auf der Basis eines alldurchdringenden Zeitgewissens und Zeitbewußtseins der Mitglieder industriealisierter Gesellschaften mag der folgende, ein wenig pathetisch klingende Satz des Psychologen Lucien Sève seine Bedeutung haben: „In der Fähigkeit, ihre Zeit zu nutzen, besteht die wahre Infrastruktur der voll entfalteten Persönlichkeit"[70]. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Struktur der Persönlichkeit sich im Rahmen der vorgefundenen Zivilisation entfaltet. Deren Entwicklungsniveau treibt die individuelle Persönlichkeitsbildung voran, stellt aber auch deren Grenze dar. Die Fähigkeit zur Zeitgestaltung entwickelt das Individuum auf der Basis der vorgefundenen konkreten Sozialisationsbedingungen - wie bspw. Klassen- oder Geschlechtszugehörigkeit. Dies gilt nicht erst für das um ein relativ hohes Maß an Individualautonomie bestrebte bürgerliche Individuum. Doch spürt es die Zeit, nämlich seine Einbindung in die Sozialverhältnisse, deutlicher als seine Vorgänger. Es ist bereits ausführlich dargelegt worden, daß auch früheren Menschen dem Zeitsymbol unterworfen waren, aber in abgestuft lockereren Formen, einige - auch zeitgenössische - Menschengruppen mit deutlich schwächerem Zeitbewußtsein. Es gibt jedoch keine Zivilisation ohne das durch die Zeit symbolisierte Gewaltverhältnis. „Die Realität der Zeitanforderungen drängt sich in die zeitlose Welt reinen, ungeschmälerten Luststrebens und zwingt jeden einzelnen, ein Maß an Kompromiß zu akzeptieren, wenn er in die Kultur hineinwachsen will“[71]. Darum ist auch das Hineinwachsen der Individuen in die soziale Welt, in die Welt „des anderen“ von einer tiefgehenden Ambivalenz durchzogen, die sozusagen „leider“ unhintergehbar erscheint. „Der andere konstituiert sich notwendig in dieser Ambivalenz; anders gesagt, die niemals aufhebbare Ambivalenz, die dem andern anhaftet und die sich auf alle späteren psychischen Besetzungsobjekte vererben wird, ist das Nebenprodukt der imaginären Anteile, die bei der Konstitution des Objekts eine Hauptrolle gespielt haben. Noch entscheidender ist jedoch das vom Schema der Allmacht ausgehende projektive Moment dabei...“[72] Das gleichsam „besondere Gewaltverhältnis“, das zwischen der Gesellschaft und den Individuen besteht, wird von den Individuen durch Allmachtsphantasien konterkariert, die im Verlaufe der individuellen Entwicklung und unter normalen Bedingungen dann tatsächlich zu echter Handlungskompetenz heranreifen. Der Erwerb individueller Kompetenz ändert jedoch an der grundlegenden Ambivalenz, von der die Rede war, nichts.
In diesem Zusammenhang hat Elias „darauf hingewiesen, daß es nützlich sein kann, auch wenn man in erster Linie mit dem Problem der Zeit befaßt ist, die Entwicklung der Gewalttätigkeit und der Gewaltkontrolle im Auge zu behalten.“[73] Denn die Entwicklung des Zeitbewußtseins ist engstens verbunden mit dem Prozeß der Zivilisation, der ohne eine Untersuchung der Gewaltanwendung im Dunkeln bleiben muß. Von der Probematik physischer Gewalt kann nicht abstrahiert werden: jedoch wird hier auf eine ausführliche Behandlung verzichtet. Denn für das Zeitthema ist die psychische „Gewalt“ von noch höherem Belang. Dies führt uns zunächst zurück zur Bedeutung der Todesgewißheit für die Entwicklung des Zeitbewußtseins und der Zivilisation. In diesem Zusammenhang sei nur kurz auf folgendes verwiesen: mit der Installierung eines staatlichen Gewaltmonopols im nationalstaatlichen Rahmen ist das Problem der physischen Gewaltsamkeit noch mitnichten gelöst. Besonders im internationalen Kontext und im immer noch virulenten Problem des Terrorismus drückt sich aus, daß die losgelöste, frei flottierende Gewaltsamkeit noch immer als Spielmarke im Interessengeflecht einer chaotischen Weltunordnung fungiert. "Es ist diese merkwürdige, unentschiedene Schwebe zwischen Ökonomie und Spiel, die den Stil dieses freigesprochenen Zeitalters ausmacht. Aber das bedeutet auch, daß eben jene Gewalten, welche die genealogische Arbeit band, sich mitlossprachen, Gewalten des Spiels der Ökonomie, die keine Andeutungen zeigen, sich zu einem bloßen Spiel der Gewalten zu wenden. Die `geringere Mühe´, das ist umgekehrt auch die `ganze Arbeit´ des Terrors, die sich in kein anderes Werk als den Tod, den bedeutungslosen, einbindet. Gerade das plastischste, gewaltigste Werk, die Welt zum allgemeinen Willen zu gestalten, fällt im Schrecken nicht minder in eine Schattierung zurück.“[74]
Cramer geht so weit zu behaupten, daß der „Kulturprozeß weithin von der Todesangst vorangetrieben wird"[75]. Es scheint, als hätte Elias diesen Aspekt in seiner Zivilisationstheorie unterschätzt. Er macht zwar in seiner Zeitstudie darauf aufmerksam, daß in der Todesfurcht letztlich der Grund für die permanente Suche nach Unveränderlichem im Strom der Veränderungen und damit ein wesentliches Motiv für die Neigung zu über Gebühr prozeßreduktionistischem Denken liegt - weiter oben wurde dazu aus dem Original zitiert. Doch sein ein wenig abschätziger Blick auf die Todesangst verschleierte ihm wohl die Sicht darauf, daß sie der Motor des Zivilisationsprozessesist. Wir haben es hier aber nicht nur mit der Angst zu tun, sondern vor allem mit Wissen.
„Dieses Wissen um ein Ende, ... das Hineinreichen des Endes in jeden Moment der Lebenslange macht das Spezifische menschlicher Zeiterfahrung aus“[76], läßt sich aus psychologischer Sicht dazu sagen. Wissen wirkt nur so lange beängstigend, wie es nicht adäquat gedanklich, vor allem emotional verarbeitet werden kann - was für uns gegenwärtige Menschen in bezug auf die Todesgewißheit offenkundig, wenn auch in deutlich unterschiedlicher Ausprägung, konstatiert werden darf. Doch jedes Wissen treibt den Lernprozeß voran und treibt sich somit seiner genuinen Funktion entgegen, nämlich seine angstreduzierende Wirkung. Hinzugefügt müßte vielleicht folgendes werden: Auch zu viel Wissen kann lähmen. Wissen bringt somit nur dann etwas, wenn es die eigene Handlungsfähigkeit beflügelt, bzw. das Unvermeidliche und „Schicksalshafte“ auf ein Minimum reduziert. Letzteres kann auch implizieren, daß man die Dinge ggf. auf sich beruhen läßt.
Mit dem Wissen um das eigene Ende verhält es sich etwas komplizierter als mit dem Wissen schlechthin. Denn: Durch die Todesgewißheit wird die gedankliche Verarbeitung des Gewußten erst möglich. Ich bin der Ansicht, daß dieser Satz auch in ontogenetischer Hinsicht gilt; gesichert ist seine phylogenetische Gültigkeit. Fraser legt dar: „Das Wissen um die unvermeidliche Vergänglichkeit addierte sich zu den anderen Elementen des entwicklungsgeschichtlichen Rückkoppelungskreises. Genau wie ein einziger letzter Tropfen das Faß zum Überlaufen bringt, hat die Entdeckung des Todes dem Gehirn die Freiheit gegeben, das zu leisten, was wir geistige Arbeit nennen“[77].
Zum Doppelcharakter der Todesfurcht gehört desweiteren, daß der Jenseitsglaube zwar eine konsequent realitätsbezogene Sicht auf die Zukunft vernebelt, gleichzeitig jedoch - da er angstreduzierend wirkt - die gedankliche Beschäftigung mit der Zukunft im allgemeinen und dem eigenen Tod im besonderen erst ermöglichte. Umgekehrt konnte sich freilich der Jenseitsglaube nur vor dem Hintergrund der Todesgewißheit entstehen. Grüsser artikuliert - Phylo- und Ontogenese in dem hier dargestellten Zusammenhang begreifend - den Gedanken, daß mit dem Wissen um die Endlichkeit des individuellen Daseins sowohl ein gereiftes Zeitbewußtsein als auch Jenseitsphantasien sich entwickelten. Er äußert dabei folgende Annahme: „Zeitlichkeit als begrenzende Eigenschaft unseres ‘Seins zum Tode’ bestimmt unser Leben und Verhalten. Vermutlich entwickelte sich diese Weise, Zeit auf ein individuelles Lebensende begrenzt zu erleben, parallel zu dem Glauben an ein Weiterleben der Seele nach dem Tode. Die zeitliche Begrenztheit des individuellen Seins, die Gewißheit des Todes, prägt die Zeiterfahrung des reifen Denkens“[78].
Das entwickelte Zeitbewußtsein stellt die Handlungsfähigkeit in der Gegenwart dadurch sicher, daß sie Vergangenheit und Zukunft progressiv-linear miteinander verbindet. Die gereifte Zeiterfahrung stellt eine Syntheseleistung auf Basis der in der Vergangenheit angeeigneten Kenntnisse dar, wozu notwendig auch die Prognosefähigkeit gehört. Die Todesgewißheit markiert dabei nicht nur die gesichertste Aussage über die Zukunft, sondern auch die persönlichkeitsförderlichste. Link formuliert es philosophisch so:
„Die Antizipation des Todes ermöglicht die beispiellose Freiheit, sich denkend und handelnd auf die Bedürfnisse und Herausforderungen der eigenen Zeit einzulassen“[79].
[1] Vgl. Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 617. 130).
[2] Pörtner, K. W.: Erkenntnistheoretische Topiklehre, S. 129 f.
[3]Blumenberg, H.: Lebenszeit und Weltzeit, S. 183 f.
[4] Vgl. Whitrow, G. J.: Die Erfindung der Zeit, S. 282.
[5]Gendolla, P.: Zur Geschichte der Zeiterfahrung. Klappentext.
[6] Dux, G.: Die Zeit in der Geschichte, S. 347.
[7]Elias, N.: Über die Zeit, S. 2.
[8]Aveni, A. : Rhythmen des Lebens, S. 418.
[9] Bahr, H.-D.: Sätze ins Nichts, S. 335.
[10] Siehe auch dazu die Ausführungen zum Positivismusstreit in Kap. 3. Ferner sei darauf hingewiesen, daß mit „prognostischen Trendaussagen“ natürlich nicht solche modischen, pseudo-wissenschaftlichen Aussagen á la Matthias Horx gemeind sind.
[11]Elias, N. über sich selbst, S. 174.
[12]Elias, N.: Was ist Soziologie?, S. 166 f.
[13]Trenkle, N.: Weltgesellschaft ohne Geld, S. 74.
[14] Hermann Schwengel, Jenseits der Ideologie des Zentrums. Eine strukturale Revision der Marx´schen Gesellschaflstheorie, S. 470.
[15] Ebd., S. 471, S. 472.
[16]Mannheim, K.: Mensch und Gesellschaft, S. 434 f.
[17]Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 320.
[18] Vgl. ebd., S. 500.
[19]Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 118 f.
[20]Elias, N.: Die Gesellschaft der Individuen, S. 234 f.
[21]Elias, N.: Über die Zeit, S. 66.
[22]Foucault, M.: Von der Subversion des Wissens, S. 29 f.
[23]Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 627. - Man kann das Fortschrittsdenken auch umdrehen und - auf die Spitze getrieben - es als „Ziel“ der Evolution ansehen, daß die Menschheit die Aufgabe habe, sämtliches Leben auf der Erde auszulöschen, um so die Erde wieder der „Ruhe des Anorganischen“ anzuvertrauen. Aus diesem Denken lassen sich sogar poetische Funken schlagen, wie bspw. Horstmann folgendermaßen demonstriert: „Die Geschichte des Untiers ist erfüllt, und in Demut harrt es des doppelten Todes - der physischen Vernichtung und der Auslöschung der -Erinnerung an sich selbst... Über dem nackten Fels seiner Heimat aber wird Frieden sein, und auf den Steinen liegt der weiße Staub des Organischen wie Reif." (Horstmann, U.: Das Untier, S. 113).
[24]Kettler, D. / Meja, V. / Stehr, N.: Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim, S. 26. - Als eher abschreckendes Beispiel einer solchen „poetischen Sensibilität“ mag der eben zitierte Ulrich Horstmann gelten.
[25]Elias, N: Über die Zeit, S. 15.
[26] Ebd., S. 16.
[27] Dux, G.: Die Zeit in der Geschichte, S. 80.
[28]Schwengel, H.: Jenseits der Ideologie des Zentums ..., S. 540 f., Fußnote 223.
[29]Fraser, J. T.: Die Zeit - vertraut und fremd, S. 26.
[30] Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort, a.a.O., S. 404.
[31] Ebd., S. 403.
[32]Gendolla, P.: Zur Geschichte der Zeiterfahrung, S. 11 f.
[33] Leroi-Gourhan, A.: Hand und Wort, a.a.O., S. 289.
[34] Ebd., S. 293 f.
[35] Ebd., S. 242
[36]Gendolla, P.: Zur Geschichte der Zeiterfahrung, S. 21.
[37] Lévi-Strauss, C.: Strukturale Anthropologie, S. 230.
[38]Gendolla, P.: Zur Geschichte der Zeiterfahrung, S. 10.
[39]Toulmin, St./Goodfield, J.: Entdeckung der Zeit, S. 25.
[40] Ebd., S. 313.
[41] Vgl. Elias, N.: Über die Zeit, S. 161.
[42] Ebd., S. 121.
[43] Ebd., S. 122.
[44] Ebd., S. 124.
[45]Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution S. 603
[46]Schurig, V.: Die Entstehung des Bewußtseins, S. 327.
[47] Es sei daran erinnert, daß auch Kant höchst zweideutig von menschlichen „Vermögen“ spricht, wenn er grundlegende menschliche Fähigkeiten bzw. Kompetenzen meint.
[48]Piaget, J.: Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, S. 275 f.
[49]Bieri, P.: Zeit und Zeiterfahrung, S. 266.
[50]Fraisse, P.: Psychologie der Zeit, S. 17.
[51]Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 487.
[52]Schmied, G.: Soziale Zeit, S. 14.
[53]Fraser, J. T.: Die Zeit - vertraut und fremd, S. 23.
[54] Vgl. auch die zitierten Ausführungen von Leori-Gorhan in Kapitel 3.
[55] Bahr, H.-D.: Sätze ins nichts, a. a. 0., S. 338.
[56] Ebd., S. 30.
[57] Ebd.
[58]Sacks, O.: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, S. 151 ff.
[59] Ebd., S. 155 f.
[60] Vgl. Elias, N: Über die Zeit, S. 109.
[61] Ebd., S. 110.
[62]Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 360 f.
[63]Elias, N: Über die Zeit, S. 28.
[64]Groethuysen, B.: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Bd. 1, S. 96.
[65] Geisen, Th.: Zur Diskursunfähigkeit der Religiösen, S. 21 f.
[66] Vgl. ebd., S. 103 ff.
[67] Vgl. ebd., S. 164 ff.
[68] Vgl. auch generell zur Genese der bürgerlichen Subjektivität und zum Schicksal des bürgerlichen Individuums unter dem Spätkapitalismus die noch immer aktuelle Studie von Rudolf zur Lippe, Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung, Frankfurt/Main 1975, insbesondere S. 176 ff. und S. 219 ff.
[69]Elias, N.: Über die Zeit, S. 125.
[70] Zit. nach: Servan-Schreiber, J.-L.: Die 90-Minuten-Stunde, S. 99.
[71]Rifkin, J.: Uhrwerk Universum, S. 63 f. - mit Verweis auf Freud.
[72]Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 503 f.
[73] Elias, N.: Über die Zeit, S. 148.
[74] Bahr, H.-D.: Sätze ins Nichts, a.a.O., S.71.
[75]Cramer, F.: Der Zeitbaum, S. 253.
[76]Bittner, G.: Die Zeiterfahrung in der Lebensspanne und die Antizipation des eigenen Todes, S. 462.
[77]Fraser, J.T.: Die Zeit - vertraut und fremd, S. 24.
[78]Grüsser, O.-J.: Zeit und Gehirn, S. 203 f.
[79] Link, Chr.: Die Erfahrung der Zeit, S. 11. - Bittner schlägt gar vor, die Freud'sche Kategorie „Todestrieb“ im Sinne der Anpassungsbereitschaft an die Sterbensnotwendigkeit umzuinterpretieren (Das Sterben denken um des Lebens willen, S. 59).
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