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Kapitel 6:
Zeitbewußtsein, Zeiterfahrung und Zeitgestaltung und ihr Bezug zur gesellschaftlichen Praxis
Die Zeit drückt das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum aus, insbesondere das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Praxis und gesellschaftlichen Institutionen einerseits und der individuellen Reaktion auf dieses Spannungsverhältnis andererseits. Der Umstand, daß das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum sich nicht in harmonischer Funktionalität entwickelt, bietet häufig genug Anlaß für eine gleichsam dualistische Sichtweise, die meint, "die vielen" und "den einzelnen" getrennt untersuchen zu können. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß diese Denktradition in unzulässiger Weise von der einen Realität menschlichen Lebens abstrahiert. Das soll jedoch nicht heißen, daß diese eine Realität nicht voller Brüche und Widersprüche wäre. Zweifellos hat das Individuum im Laufe seiner psychosexuellen wie kognitiven Entwicklung zum Individuum "Reibungsverluste" zu erleiden, die es mit Hilfe psychischer Konstrukte wie der halluzinatorischen Befriedigung zu überwinden trachtet.[1]
Das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum und somit auch das Verhältnis von Sozialwissenschaften und Psychologie stellt eine Beziehung des Ganzen zu seinen Teilen (und umgekehrt) dar. Deshalb kommen die Sozialwissenschaften letztlich nicht ohne die Einbeziehung bzw. Verarbeitung psychologischer Erkenntnisse aus, ist es doch ganz und gar "unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist"[2], wie der Begründer der Psychoanalyse formulierte. Deshalb kann auch die Psychologie oder die Psychoanalyse nicht auf die Berücksichtigung der sozialen wie politischen Verhältnisse verzichten.
Diese Auffassung hat sich weitgehend durchgesetzt, und doch lebt die gewohnte Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft - gefördert sowohl durch die Arbeitsteilung in den Fachdisziplinen als auch durch den gegenwärtigen Individualisierungsschub - im vorherrschenden Denken fort. Die Wahl der Begriffe zeigt an, daß es eben nicht um "Interdependenzen" zwischen der Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen und dem sozialen Prozeß geht, sondern um ein ineinander verwobenes Ganzes. Unsere Fähigkeit, uns als ein von der Gesellschaft abgetrennter "homo clausus" zu fühlen, uns als "Einsame” zu stilisieren, ist alles andere als angeboren; sie selbst ist sozial erlernt, sie konnte vom Individuum erst ab einer bestimmten Stufe der Gesellschaftsentwicklung erworben werden.
6.1 Triebverzicht und Zeitgewissen
Mit unserer Verschlossenheit hat sich unser Zeitgewissen entwickelt. Es ist ein sozial induziertes, psychologisches Phänomen. Das Level seiner Entfaltung ist ein, wenn nicht der wesentliche Indikator für den Grad der Ausprägung bürgerlicher Individualität. Bürgerliche Individualität ist "ungesellige Geselligkeit" (Kant), vermittelt nicht zuletzt über das Zeitgewissen. Wie jede zivilisatorische Entwicklung, basiert auch die Verbürgerlichung zu großen Teilen auf Triebverzicht.
"Im Zusammenleben mit anderen erfahren wir, daß wir auf die unmittelbare Erfüllung unserer Wünsche verzichten müssen. Die beiden Anpassungsformen des Wartens und der Hast werden verschärft und vermehrt durch das soziale Leben. Sich der Zeit zu unterwerfen bedeutet praktisch, die Zeit der anderen zu akzeptieren. Dieser Zeitdruck umfaßt eine ganze Reihe von Gradabstufungen. Normalerweise ist er umso stärker, je mehr wir in ein komplexes Netz sozialer Beziehungen eingebunden sind. Die Unterschiede werden in einem einfachen, aber aussagekräftigen Beispiel deutlich: Der Anteil der Stadtbewohner, die eine Uhr tragen, nimmt mit der wachsenden Population zu. Bauern sind offenbar weniger auf einen genauen Zeitplan angewiesen als Angestellte oder Arbeiter. Jeder von uns unterliegt auf seine Art dem Zeitdruck, der, bedingt durch unsere äußeren Lebensumstände, auf uns lastet."[3] Der Hinweis, daß der Zeitdruck auf die Anpassung der Person an die "äußeren Lebensumstände" zurückzuführen ist, ist durchaus der Erwähnung wert, wird doch oft genug stattdessen ein technisches Gerät als Stressor identifiziert. Eine Reihe von Autoren vertritt die Auffassung, die Uhr selbst sei es, die den Termindruck verursache und die zu einer negativen Bewertung von "Leerzeiten" führe, die dringend zu vermeiden seien. Auch in Filmen erscheint die Uhr häufig genug als "Teufelswerkzeug", deren drehende Zeiger den Menschen zermalmen. Die Uhr ist jedoch zunächst einmal nichts anderes als das Instrument eines Instruments, nämlich das Zeitmeßinstrument. Der Komplettierungszwang, "tote Zeit" möglichst erst gar nicht entstehen zu lassen, ist jedoch nicht der Allgegenwart des Symbols, sondern dem strengen Zeitgewissen zuzurechnen. Es mag tatsächlich eine soziale Gesetzmäßigkeit sein, daß die Genauigkeit der Uhr und der Zeitdruck parallel oder sogar proportional zunehmen, nicht jedoch im intendierten Sinne eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, sondern als sich gemeinschaftlich entwickelnde Indikatoren eines Sozialprozesses, der die Zeit-Sensibilität permanent verstärkt.
In diesem Jahrhundert hat das Zeitgewissen stark an Bedeutung zugenommen, insbesondere in den entwickelten Industrieländern. In Umkehrung früherer Zeiten bedeutet heutzutage der Umstand, "keine Zeit zu haben", geradezu ein Privileg höherer Schichten; der sprichwörtliche Manager mit dem übervollen Terminkalender ist dafür ein schon klassisches Beispiel. Für Castoriadis hat darum die Zeit in den spätkapitalistischen Gesellschaften des Westens nicht nur die Funktion, den Tag in immer kleinere Intervalle zu unterteilen, sondern auch eine imaginäre Bedeutung, die mit der Fortschrittsidee zusammenfällt: "Man kann sagen, daß diese effektive geschichtliche Zeitlichkeit vom Kapitalismus geschaffen wurde; andererseits kann aber der Kapitalismus nur in, durch und als eine solche effektive Zeitlichkeit bestehen. Diese Zeitlichkeit ist nicht explizit als solche instituiert oder gar gedacht oder vorgestellt worden (höchstens unbewußt). Denn die explizite Institution der Zeit im Kapitalismus als identitätslogische oder metrische Zeit ist die eines meßbaren, homogenen, einförmigen, vollkommen arithmetisierten Flusses. Als imaginäre oder Bedeutungs-Zeit wird die Zeit im Kapitalismus dagegen typischerweise als 'unendliche' Zeit des unbegrenzten Fortschritts, des unbeschränkten Wachstums, der Akkumulation und Rationalisierung, der Eroberung der Natur, der immer weiteren Annäherung an ein exaktes Totalwissen, kurz: als Zeit der Verwirklichung einer Allmachtsphantasie vorgestellt... Aber dies fällt nicht mit der effektiven Zeitlichkeit des Kapitalismus zusammen, die den Kapitalismus als Zeitlichkeit sein läßt, der er verdankt, was er ist. Auf einer Ebene ihrer Wirksamkeit ist die kapitalistische Zeit Zeit des unaufhörlichen Bruchs, der wiederkehrenden Katastrophen und Umwälzungen, der ständigen Entwurzelung alles Bestehenden... Auf einer anderen Ebene ihrer Wirksamkeit ist die kapitalistische Zeit Zeit der Akkumulation, der geradlinigen Universalisierung, der Verdauung und Assimilation, die Zeit der Stillstellung des Dynamischen, der tatsächlichen Aufhebung der Andersheit, die Zeit des Stillstands im ständigen 'Wandel', die Zeit der Tradition im Neuen, der Rückbildung des 'Immer mehr' zum 'Immergleichen', der Zerstörung der Bedeutung, der Ohnmacht im Herzen der Macht: einer Macht, die mit ihrer Ausweitung immer leerer wird. Und auch diese beiden Ebenen sind nicht voneinander zu trennen; eine ist in der anderen enthalten und beruht auf ihr. In ihrer Verschränkung, in ihrem und durch ihren Konflikt ist der Kapitalismus Kapitalismus."[4]
Die Bedeutung der Zeit im Kapitalismus ist, mit anderen Worten, gerade durch ihre hochgradige Ambivalenz produktiv und herausfordernd.
Das schon vor der Aufklärung beginnende, wohl schon in der Renaissance einsetzende und mit den Vorstellungen wie Beschleunigung und Wettlauf verbundene Denken beruht auf der Kombination eines Tätigkeitsdrangs, der sich aus dem Selbstbewußtsein der real gestiegenen eigenen Kräfte speist, und der Rationalität, die mit dem gewachsenen Maß an Wissen und Können einhergeht.[5] Es drängt sich eine Parallele zu dem von der Psychologie für den Einzelmenschen aufgedeckten Zusammenhang auf: das Selbstbewußtsein ist Voraussetzung für den persönlichen Reifungsprozeß. Wenn dies ergänzt wird durch die Kompetenz, einen nicht zu kleinen Zukunftsabschnitt überblicken zu können, erringt das Individuum die Möglichkeit, in diese facettenreichen, ungeordneten Bilder mittels rationalem Denken Linien vom Jetzt in den freien Zukunftsraum zu zeichnen. Diese Konstruktionen werden zu Produktionen, wenn die Synthese von freier Phantasie und an Gesetzmäßigkeiten orientierter Rationalität gelingt. Mit dem häufigen Gelingen dieser schöpferischen Entäußerungen wachsen Selbstbewußtsein und Phantasie, Wollen und Denken, Handeln und Zeitempfinden. Hat sich dieser Prozeß dynamischer Wechselwirkungen "stabilisiert", werden von jedem der einflußnehmenden Faktoren aus zusätzliche, weitertreibende Impulse in Gang gebracht; quantitativ und qualitativ wächst das gesamte System und differenziert sich zunehmend, so daß der auslösende Faktor letzten Endes nicht mehr eruiert werden kann.
Daher kann die Uhr auch nicht als Auslöser des Prozesses der neuzeitlichen, europäischen Zeiterfahrung bezeichnet werden, schon gar nicht als Ursache. Jedoch markiert das Aufkommen der Uhr in der Renaissance einen gewichtigen relativen Anfang, so daß sie durchaus als "Voraussetzung und Mittel" für die Durchsetzung der gegenwärtigen Zeitvorstellungen angesehen werden kann, wie Dohrn-van Rossum dies ausdrückt: "Die Uhr war und ist nicht nur Voraussetzung und Mittel des zunächst typisch europäischen, dann allgemein industriegesellschaftlichen Umgangs mit der Alltagszeit; sie ist auch das Symbol für den Vorgang der europäischen Modernisierung."[6]
So richtet sich das "Unbehagen in der Kultur", wie Freud eines seiner Werke betitelt hat, gegen dieses Symbol mit der gleichen Schärfe, mit der die Uhr seit Jahrhunderten bis in unsere Tage als Statussymbol herhalten muß. Das Instrument Uhr wird zum Fetisch für die Zeit, die ihrerseits ein Instrument ist, das die gesellschaftlichen Verhältnisse den ihre Ohnmacht verspürenden Menschen magisch ersetzt. Damit wird jedoch das stillgestellt, was Berger/Luckmann als die Dialektik von Natur und Gesellschaft bezeichnen, oder als die "Koexistenz unserer Animalität und Sozialität": "Man kann durchaus von einer Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft sprechen ... Sie ist in der Conditio humana angelegt und wird in jedem Menschen neu manifestiert. Beim Einzelnen entfaltet sie sich natürlich in einer schon vorstrukturierten sozio-historischen Situation. Zwischen jedem einzelnen menschlichen Lebewesen und seiner sozio-historischen Situation geht ständig ein dialektischer Prozeß vor sich, der mit den ersten Phasen der Sozialisation beginnt und sich weiter entfaltet, solange das Leben des Einzelnen in der Gesellschaft währt. Äußerlich ist das eine Dialektik des individuellen Lebewesens und seiner gesellschaftlichen Welt. Innerlich ist es eine Dialektik der biologischen Grundlage des Einzelnen und seiner gesellschaftlich produzierten Identität."[7]
Doch geht die Funktion der Zeit über ihren Symbolgehalt hinaus, und schon aus diesem Grund ist sie keinesfalls nur als Fetisch zu begreifen. Die Zeit ist ein unentbehrliches Instrument des Sozial
verhältnisses in allen uns bekannten, also bisherigen Gesellschaften. Kein Herrschaftsverhältnis kann ohne das Zeitinstrument auskommen, weshalb die Zeit auch nicht mit einem Willensakt "abgeschafft" werden kann. Im Gegenteil: die Geschichte ist voller Beispiele, auf welch zähen Widerstand - keineswegs nur der jeweils Herrschenden - beabsichtigte Reformen am Zeitsystem stoßen. Die Kalenderreformen bieten genug Anschauungsmaterial für eine eigene Darstellung, die ergänzt werden könnte durch jüngere Auseinandersetzungen um Modifizierungen am Uhrzeitsystem. Dies würde zum einen den hier gesetzten Rahmen sprengen; zum anderen bedarf es jedoch auch nicht einer solchen Abhandlung, um feststellen zu können, daß eine Politik gegen die Zeit unmöglich ist, richtete sie sich doch gegen soziale Gesetzmäßigkeiten.[8]
6.2 Zeitsymbol und Geldsymbol
Eine Abschaffung der Zeit käme einer allseitigen Auflösung der gesellschaftlichen Zusammenhänge gleich. Da sich deren Kompensation nicht einmal erahnen läßt, soll ein kurzer Exkurs zum Geld, einem Begriff mit ähnlichem Profil wie dem der "Zeit" die Problematik verdeutlichen. In Bezug auf eine Abschaffung des Geldes wurden in jüngster Vergangenheit entsprechende Versuche unternommen. Sie führten zu abstoßenden Ergebnissen, die glücklicherweise relativ schnell scheiterten.[9] Andererseits läuft vor unseren Augen ein Prozeß der "reflexiven Modernisierung" des Geldes ab.[10] Dieser Max Weber entliehene, von Beck zugegebenermaßen in scheinbar anderem Zusammenhang in die sozialwissenschaftliche Debatte geworfene Terminus besagt in etwa, daß durch zunehmend erfolgreichere Funktionserfüllung ein Instrument seine eigene Obsoleszenz mit herbeiführt. Und am "Erfolg" des Geldsymbols gibt es wenig Zweifel.
Der Zusammenhang zwischen Geld und Zeit besteht zunächst darin, daß sich das Geld als Ergänzung des Zeitsymbols entwickelt hat.[11] Ein Aspekt dieser symbolischen Trennung besteht darin, daß der Gedanke, die Zeit als eine Handelsware zu sehen, den Menschen unerträglich erschien. Er bereitet auch heute noch - und nicht nur in "Gottesstaaten" - Schwierigkeiten. Auch hierzulande wird häufig der Eindruck erweckt, als ob erst relativ spät, etwa mit der Etablierung des Kapitalismus, die bis dahin vermeintlich klassenneutrale Zeit in monetäre Erwägungen einbezogen worden sei. Dies geschah, wenngleich nicht in der aus früherer Sicht "schamlosen" heutigen Form, seit die erste Münze geprägt wurde, ist doch die Zeit Instrument und Symbol der Sozialverhältnisse, die in jeder Klassengesellschaft dadurch zu kennzeichnen sind, daß Menschen über die Zeitgestaltung anderer Menschen verfügen. Und diese Verfügbarkeit über die Zeit anderer ist genau als die politische Seite unseres Zeit- und mithin auch Geldverständnisses anzusehen; politisch "unschuldig" ist dieses Verständnis jedenfalls nicht.
Dies berücksichtigend, ist es erhellend, wie Kuhn - den politischen Blick auf aktuelle Tendenzen gerichtet - kurz darlegt, "wie die Zeit überhaupt zum Gegenstand des ökonomischen Kalküls wurde und welches Gedankengut sich dahinter verbirgt. In der Produktionssphäre ist dies ja (jedenfalls vom
Standpunkt der neoklassischen Theorie) schon immer so gewesen. Dort wird (Arbeits-)Zeit als ein Produktionsfaktor gesehen und wie alle anderen Faktoren auch nach ihrer (Grenz-)Produktivität entlohnt, also dem zusätzlichen Ertrag, den der Einsatz einer weiteren Arbeitsstunde hervorbringt. Dieses Prinzip dringt aber in subtiler Weise in die Konsumsphäre ein und bestimmt dort die Zeitallokation der Haushalte."[12]
In diese Richtung argumentiert auch Rinderspacher, der vom "Terror der Opportunitätskosten" spricht. Damit beschreibt er "die Tatsache, daß aufgrund der steigenden Bewertung bzw. des Wertes der Zeit vorhandene Zeitintervalle intensiver im Sinne einer Steigerung der Genuß- und Güterintensität pro Zeiteinheit von den Konsumenten genutzt werden (müssen)."[13]
Die Kritik an der gegenwärtig zu beobachtenden verschärften Ökonomisierung der Zeitgestaltung darf nicht übersehen, daß sich ökonomisches Denken erst auf Basis eines Zeitbewußtseins entwickeln konnte, mit einfachen Worten ausgedrückt: zunächst schufen die Menschen die Zeit, erst dann das Geld. Der Zeitbegriff ist noch zu allgemein, zu sehr mythisch besetzt, als daß er sich umstandslos für filigrane Kalkulationen instrumentalisieren ließe.
Letztlich ist das Geld nichts anderes als eine Spezialisierung und Verfeinerung des Zeitinstruments für wirtschaftliche Zwecke. "Nach der Uhr, die den Zeittakt gibt, wird das Geld zu dem Ding, das sie
die Zeit, W.J.) zählt und aufbewahrt. Geld wird gespeicherte Zeit."[14] Man denkt dabei an Marx' Kennzeichnung des Kapitals als "geronnene Arbeit" oder an seinen Satz "Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf", wenn Lyotard das Geld als "gespeicherte Zeit" bezeichnet. Die moderne Zeitauffassung sieht mithin also nur das als "geleistete Arbeit" an, was sich in monetären Größen ausdrückt, also in dem, was ich als Arbeitszeit für einen anderen zur Verfügung stelle, der mich dementsprechend "entlohnt". Zeitgrößen, die auch entscheidend zur Reproduktion der Gesellschaft beitragen (etwa Hausfrauenarbeit, "Erziehungsarbeit", soweit nicht entlohnt, etc.), bleiben unberücksichtigt und werden im öffentlichen Diskurs übergangen.
Durch nichts wird der temporale Charakter des Geldes deutlicher als durch den Zins, "da ja Zins als Kaufpreis bzw. Wert für Zeit beschrieben werden kann."[15] Daher steht der Zins seit dem 19. Jahrhundert im Brennpunkt der Kritik an der Monetarisierung der Lebensverhältnisse. Die Kritik wird dabei bis in unsere Tage aufrecht erhalten, bspw. von islamischen Entwicklungsländern, aber auch von linksgerichteten Gruppen in der westlichen Welt, die sich dabei auch auf Marx berufen könnten. Marx zitierte aus einem anonymen 40seitigen Brief an Lord Russel von 1821 - und zwar mit unüberhörbarer Zustimmung: "Wahrhaft reich ist eine Nation erst, wenn kein Zins für Kapital gezahlt wird; wenn statt zwölf Stunden nur sechs gearbeitet wird. Reichtum ist verfügbare Zeit und sonst gar nichts."[16]
In marxistischen Termini ausgedrückt ist der Kampf um die Zeit immer auch eine Frage des Klassenkampfes. Die Frage, wer über meine Zeit verfügt damit auch über den Mehrwert, den ich produziere, ist keineswegs eine "naturwüchsige" Frage, die sich aus dem Kampf der Klassen von selbst ergibt. Das, was Zeit ist, was angemessene Entlohnung, gerechter Tausch usw. ist auch immer eine politische Frage der Definition, um die gerungen werden muß, auch und erst recht im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses:
"Weil die Objektivität des Klassenkampfes erkannt werden muß, die Erkenntnis nicht einfach 'in ihm enthalten' ist, weil in den Klassenkampf eingegriffen werden muß, weil es eine nach eigenen Regeln arbeitende Wissenschaft gibt, also eine unaufhebbareDifferenz zwischen der Objektivität und den Beziehungen zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie existiert, ist eine theoretische Praxis notwendig..., die die Beziehung der Differenz zur Objektivität und die Beziehungen der Praxisformen von Politik, Philosophie und Wissenschaft zum Ausdruck bringt."[17]
Die Bestimmung des Geldes ist, die Zeit zu bestimmen - freilich auf eine bestimmte Art und Weise.
"Die drei wichtigsten Funktionen des Geldes - daß es Werte mißt, tauscht und speichert - lassen sich in einer einzigen zusammenfassen: Es hält die Zeit fest. Die verrinnende, flüchtige Zeit, die mit den Uhren ja nicht zu beeinflussen ist, nur sichtbar gemacht wird, als immer verschwindende, unaufhaltsame Bewegung, mit dem Geld wird sie in ein Stück Metall gepreßt, in ein Papier geschrieben, zu einer Summe gemacht, die bearbeitet werden kann. Mit dem von allen als abstrakter Wertmesser anerkannten Geld scheint ein Mittel gefunden zu sein, das gegen die Ungewißheiten, die plötzlichen Änderungen, gegen Unfälle und Katastrophen zu helfen verspricht: die flüssige, ungreifbare Zeit erstarren läßt, in berechenbare Zahlen verwandelt. Das Geld selbst wird so auch in Kooperation mit der Uhr und dem Kalender zum wichtigsten jener 'sozialen Signale', die die inneren Uhren einzustellen erlauben, das die individuellen Aktivitäten als solche koordiniert."[18]
Dieser Darstellung Gendollas ist nur beizupflichten; er weiß, was wir alle wissen, nämlich, daß das Geld seinem Entwicklungsmotiv, nämlich Ruhe und Verläßlichkeit zu schaffen, in keiner Weise gerecht werden konnte. Denn dem Kapital ist mit dem Zinsprinzip gleichsam ein Uhrzeiger eingebaut. Sein Drehen nimmt dem Besitz die bodenständige Ruhe des Raumes; der Zeitfaktor wirkt als Unruhe, permanenter Kapitalverwertungsprozeß.
Das Prinzip Zeit = Zins zwingt zur genauen Beobachtung der Produktionsdauer, einschließlich der Zeiten für Transport, Umschlag und Lager. Die Umschlagsgeschwindigkeit des Kapitals wird zum ausschlaggebenden Kriterium. Die Höhe des Gewinns einer (Produktions-) Leistung ist für sich genommen nicht wichtig; die Frage lautet vielmehr: wieviel Profit erzielt, wie hoch verzinst sich das eingesetzte Kapital in welcher Zeit? Diese unternehmerischen Koordinierungsleistungen werden auf dem Weltmarkt ihrerseits gebündelt, der Zeitfaktor multipliziert sich mit sich selbst, d.h. er steigt exponentiell. Die Zeitsensibilität erreicht ihren Höhepunkt im Rahmen der Börsenspekulation, insbesondere bei den Terminbörsen. Die aus vielen Faktoren formalisierte Zukunftserwartung entscheidet äußerst kurzfristig über Erfolg oder Mißerfolg. Wer hier nicht "sein" Informationsmaterial - weltweit vernetzt - über die Datenautobahnen in "Echtzeit" erhält, ist verloren.
Altvater meint hierzu: "Mit den Computernetzen ist die Zirkulation des Geldes wahnwitzig beschleunigt worden, überall wurden sozusagen neue Autobahnen und Fluglinien für das Geld gebaut. Über diese neuen schnellen und flexiblen Finanzinstrumente kann Kapital, das früher langfristig angelegt war, heute kurzfristig mobilisiert werden, wenn die verschiedenen Zinsen und Renditen es nahelegen. Dadurch entstand eine große Instabilität, die wiederum Anlaß für neue Risikosicherungsgeschäfte war... Jedes Stockwerk, das gebaut wird, macht den Bau eines neuen Stockwerks nötig. Das ist ein ökonomischer Wolkenkratzer, der irgendwann womöglich zusammenkracht",[19]
Diese Art der kurzfristigen Zukunftserwartung steht in Konkurrenz zu einer politischen Auffassung einer offenen Zukunft. "Aus dem Umstand, daß die 'Zeit' als Kategorie... ihren apriorischen Charakter und ihre behauptete Homogenität zunehmend eingebüßt hat, ergibt sich erkenntnistheoretisch (und damit auch politisch, W.J.), daß die Zukunft als die Instanz des Wagnisses, des Abenteuers durch keine delphischen Orakel mehr beeinflußbar ist. Die Zukunft ist nicht mehr schicksalsbestimmt (etwa in Form 'ewiger' Naturgesetze), sie ist Grenze eines Planungshorizonts, wobei es darauf ankommt, welche Zukunft gemeint ist."[20]
Das Eigentum verliert mit jeder "industriellen Revolution", mit jeder weiteren Kapitalisierung, mit jeder ("Post"-)Modernisierung sukzessive seinen ursprünglich konservativ-statischen Charakter. Die dynamischen Zeitelemente der Arbeit und deren spezifische Möglichkeiten der Intensivierung und Beschleunigung erfassen somit mehr und mehr auch die "geronnene Arbeit" (Marx).
Die Entwicklungsrichtung des sozialen Prozesses schafft tendenziell die Voraussetzungen dafür, das Kapital durch das vermeintlich "natürliche" Maß der Zeit zu ersetzen; denn durch sein scheinbar immer präziseres Zeitmeßpotential "arbeitet das Geld" gleichsam an seiner eigenen Obsoleszenz dadurch, daß es notwendigerweise sein Gesicht mit ansteigender Geschwindigkeit verändert. Je ”abstrakter" die Erscheinungsform des Geldsymbols, desto deutlicher wird die Uhr sichtbar, die in ihm tickt. Die wachsende Fetischisierung des Geldes beschleunigt diesen "reflexiven Prozeß". Gleichzeitig wird jedoch erkennbar, daß beim Weiterdrehen an der Schraube der reflexiven Modernisierung ihr gleichsam "nominalistischer" Charakter offenbar wird, d.h. daß es sich dabei um eine gesellschaftliche Praxis handelt, die die Definition des Geldes institutionalisiert, ohne sie jedoch letztgültig fixieren zu können; der Kapitalismus schüttelt quasi seine bürgerliche Hülle ab. "Erst in der Wertformanalyse und in der Geldanalyse wird die Unterscheidung von bürgerlicher gesellschaftlicher Arbeit und kapitalistischer gesellschaftsproduzierender Tätigkeit entwickelt. Die Wertformanalyse ist keinesfalls als fortgesetzte Analyse des Warentauschs zu verstehen, sondern hier wird die Spezifität kapitalistischer Produktion als gesellschaftlicher erkennbar."[21]
In dem Augenblick jedoch, wo der Kapitalismus selbst als gesellschaftsproduzierende Potenz erkannt wird, ist er auch für den politischen Eingriff handhabbar. Ob dies jedoch in der Realität auch tatsächlich umgesetzt wird, ist jedoch fraglich.
Folgt man der Quasi-Automatik des reflexiven Prozesses, dem das Geldsymbol zunehmend unterliegt, so ist es noch zu früh, darüber zu spekulieren, ob auf höherer Entwicklungsstufe das Zeitsymbol selbst davon erfaßt wird; dennoch ist die hypothetische Frage erlaubt, ob analog die immer präzisere Zeitmessung - im Verein mit anderen Kommunikationstechnologien und dem Zivilisationsschritt zu einem allseitig entwickelten Zeitgewissen - zur Obsoleszenz des Zeitsystems tendieren könnte.
An seiner gesellschaftlichen Notwendigkeit kann jedoch auf absehbare Zeit nicht gezweifelt werden. Die technischen und vor allem zivilisatorischen Bedingungen für einen Verzicht auf Uhr und Kalender sind bei weitem nicht gegeben. Allerdings ist gegenwärtig schon zu beobachten, daß mit jeder jüngeren Generation das Zeitgewissen merklich abnimmt - die Internalisierung schreitet fort: Ermahnungen bzw. Belehrungen über die "Tugend" der Pünktlichkeit werden mit den Generationen zunehmend durch Selbstzwangmechanismen abgelöst. Die "zweite Haut" des Zeitgewissens bildet die Basis für enorm gestiegene neuropsychische Belastungen, aber auch für die sukzessive Überwindung der uns bekannten formalen und schematischen, zur Sucht der Schnelligkeit führenden "Diktatur der Zeit". Das "Unbehagen in der Kultur", von dem Freud sprach, und das auch eine gewissermaßen psychophysische Reaktion auf die wachsenden Selbstzwänge darstellt, ist für Oskar Negt "gleichzeitig ein Unbehagen an dem vorherrschenden Begriff des Politischen": "Nur in dem Maße, wie Politik in den Alltag eingefügt ist und mithilft, Sinnfragen öffentlich zu stellen und Antworten darauf wenigstens provisorisch und experimentell vorzuschlagen, kann auch große Kultur der Vergangenheit mit ihrem Utopiegehalt wieder eine alltägliche Bedeutung für die praktische Selbstverwirklichung der Menschen gewinnen, für den erweiterten Wahrnehmungshorizont ihrer Autonomie und Selbstbestimmung."[22]
6.3 Die Psychologie der Zeit
Die Entstehung und Funktionsweise eines humanen Systems, gleichgültig, ob nun Individuen oder Gesellschaften betrachtet werden, sind untrennbar an die Funktionsweise des Zeitbewußtseins, gebunden, das sich in den "sechs Dimensionen: Sequenz, Dauer, Planung, Wiederholungsrate, Synchronisation und zeitliche Perspektive"[23] entwickelt, und das in der uns bekannten Form untrennbar an die allgegenwärtigen Zeitmeßinstrumente wie Kalender und Uhren gebunden ist.
Dazu Elias: "Tatsächlich ist es die Entwicklung des Zeitbestimmens im sozialen Leben, die allmähliche Schaffung eines relativ gut integrierten Rasters von Zeitregulatoren wie kontinuierlichen Uhren, kontinuierlichen Jahreskalendern oder die Jahrhunderte umspannende Ära-Zeitskalen..., die das Erleben der Zeit als eines gleichmäßigen, einförmigen Flusses überhaupt erst möglich macht."[24]
Dazu bedarf es der "spezifischen Fähigkeit von Menschen, das, was in einer kontinuierlichen Geschehensabfolge 'früher' und was ,später', was 'vorher' und was 'nachher' geschieht, zusammen ins Auge zu fassen und dadurch miteinander zu verknüpfen. Das Gedächtnis spielt bei diesem Vorstellungsakt, bei dem man zusammensieht, was nicht zusammen geschieht, eine grundlegende Rolle."[25]
"In dem Fluß des Geschehens selbst gibt es keine Einschnitte... Man sieht es deutlich genug, wenn die zur Gegenwart gewordene Zukunft ihrerseits Vergangenheit geworden ist. Nur im Erleben der Menschen gibt es die gewichtigen Scheidelinien zwischen dem, was 'heute', was 'gestern' oder was 'morgen' ist."[26]
So besteht aller Anlaß für die Psychologie, sich der Zeitbezogenheit des Menschen mit derjenigen Aufmerksamkeit zu widmen, mit der sie es in diesem Jahrhundert tut. Der Beitrag der heutigen Psychologie zum Zeitthema besteht m.E. vor allem darin, daß die Gegenwart nicht mehr (nur) als Detail in der "ewigen Zeitlinie", sondern umgekehrt als Eingang in ein umfassendes Zeitbewußtsein aufgefaßt wird. In gewisser Hinsicht kommt dies dabei auch, wie Wendorff meint, "einem mit elementarem Nachdruck erfolgenden Stoß gegen die abendländischen Traditionen des linear-kontinuierlichen Zeitbewußtseins"[27] gleich, wohlgemerkt: gegen seine Traditionen, nicht (immer) gegen das linear-progressive Zeitbewußtsein selbst, das ja (wie Castoriadis sagt) nur allzu oft mit der Fortschrittsideologie synonym gebraucht wird.
Jedenfalls kann für die Psychologie ein deutlicher Wandel zu stärkerer Prozeßorientierung konstatiert werden, war sie doch noch zu Beginn und in der Mitte dieses Jahrhunderts stark vom Behaviorismus geprägt. Elias' wissenssoziologische Konzeption einer Zivilisationstheorie war somit weniger die Negation eines statisch-verkürzten Verständnisses von sozialwissenschaftlicher Forschung - dieses hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in problematischer Weise entwickelt wie z.B. die diversen funktionalistischen Strömungen in der Soziologie; die Zivilisationstheorie war vor allem eine Kritik an den damals modischen Trends in der Psychologie. Rückblickend schreibt Elias:
"So begann ich mein Buch 'Über den Prozeß der Zivilisation mit dem klaren Bewußtsein, daß es ein impliziter Angriff gegen die Welle der Einstellungs- und Verhaltensuntersuchungen zeitgenössischer Psychologen sein würde. Denn die akademische Psychologie - nicht die Freudianer - glaubten strikt, daß man jemanden hier und jetzt vor sich haben, daß man seine Einstellung durch Fragebögen oder andere quantitative Methoden messen müsse, um etwas Sicheres aussagen zu können. Und auf diese Weise ist es natürlich ganz unmöglich, heutige Standards als etwas Gewordenes in den Blick zu bekommen. Sie gingen immer so vor, als ob sie aus den Ergebnissen von Tests mit heutigen Menschen unmittelbare Rückschlüsse auf Menschen überhaupt ziehen könnten."[28]
Alles ist in Veränderung begriffen, auch die Psychologie.[29]
1957 wurde in Frankreich die Originalausgabe der "Psychologie der Zeit" veröffentlicht. Darin schreibt Fraisse:
"Alles ist in Veränderung begriffen, auch der Mensch. Sein biologisches, psychologisches und soziales Leben ist steter Wechsel. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen weiß der Mensch, daß er in der Veränderung lebt. Durch das Gedächtnis kann er sie nachvollziehen und dabei Regeln entdecken, um zukünftige Folgen abzusehen. So lernt er früh, das Werden zu nutzen, anstatt es zu erleiden. Das Erlebnis der Sukzessionen, von denen einige periodisch sind und andere nicht, der regelmäßigen und unregelmäßigen Veränderungen, der dazwischenliegenden Wiederholungen und relativen Beständigkeiten, erklärt zweifellos das Entstehen dieser Zeitidee."[30]
In dem Augenblick, wo das Individuum die "monadische" Mutter-Kind-Dyade verläßt und sich dem "Außen" öffnet, entsteht auch das, was Castoriadis das "gesellschaftliche Individuum" nennt: die Primärprozesse, die auf Dauer angelegt sind und weder Zeit noch Ort kennen, werden aufgebrochen, um der gesellschaftlichen Produktion von Zeit und Geschichte Platz zu machen:
"Der Prozeß der gesellschaftlichen Institution des Individuums, das heißt die Sozialisation der Psyche, beinhaltet untrennbar einen psychogenetischen und einen soziogenetischen Aspekt (eine Idiogenese und eine Soziogenese). Im Verlauf dieser Geschichte verändert sich die Psyche und öffnet sich der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Arbeit und ihres eigenen schöpferischen Vermögens. Und im Verlauf dieser Geschichte zwingt die Gesellschaft der Psyche eine Seinsweise auf, die diese niemals aus sich selbst hätte hervorbringen können und die das gesellschaftliche Individuum herstellt/schöpft. Diese beiden geschichtlichen Verläufe münden ins gesellschaftliche Individuum, das das stets unmögliche, aber stets gelingende Kunststück vollbringt, eine private(kosmos idios) und eine gemeinschaftliche oder öffentliche Welt (kosmos koinos) in sich nebeneinander bestehen zu lassen."[31]
Dieser Übergang vom "monadischen" zum "gesellschaftlichen" Subjekt ist es, der überhaupt erst die Prozesse in Gang setzt, die eine Psychologie der Zeit erforschen will. Das Auseinanderfallen der individuellen Psyche in eine "private" Welt des Phantasmas und eine "gesellschaftlich-öffentliche" der sozialen Lebenswelt ist allerdings - und darüber sollte es keine Illusionen geben - eine Kluft, die das ganze Leben lang erhalten bleibt, so daß das Privatsubjekt immer der Versuchung unterliegt, in die autistische Welt des Phantasmas zurückzukehren.[32] Aus diesem Grund ist nur auf der Ebene des gesellschaft-geschichtlichen Veränderung möglich; bleibt das Individuum auf der Ebene des Privaten, so ist dies keine Veränderung, sondern womöglich nur Regression.
Mit der Abwendung vom Behaviorismus fiel auch der Blick auf den Prozeßcharakter der nicht-menschlichen belebten Natur leichter. Es wird deutlich, daß Tiere zunehmend mit der Höhe ihrer Entwicklungsstufe zu komplizierteren Syntheseleistungen fähig sind. Insbesondere die Menschenaffen reagieren keineswegs nur punktuell auf Reize, sondern sind durchaus dazu in der Lage, Einzelaspekte ihrer Wahrnehmung zu kombinieren und daraus interessengeleitete Entscheidungen abzuleiten. Das Denkvermögen von Schimpansen schneidet bei Tests besser ab als das dreijähriger Menschenkinder. "Intelligenz" beweisen Schimpansen auch mit ihrer Fähigkeit zur planmäßigen Täuschung. In Gruppen lebenden Tieren ist darüber hinaus die Entwicklung eines "Ich-Bildes" möglich, was in Zusammenhang mit den Beobachtungen wechselseitiger Unterstützung und nicht-sexueller Zärtlichkeit die Frage nach der Existenz von Empfindungen, die wir Gefühle nennen, bei nicht-menschlichen Säugetieren zumindest zuläßt. Für den Tierfreund immer schon selbstverständlich, für den Wissenschaftsbetrieb jahrzehntelang unseriöse anthropozentrische Spekulation, werden neue Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung[33] diesen Glaubenskrieg zwischen aufklärerischem und romantisierendem Tierbild entschärfen können und damit Platz für realitätsbezogenere Theorien machen. Weiteres Wissen über den Grad an relativer Autonomie höherer Tiere dürfte gleichzeitig die Kenntnisse über die "Genese" der Menschheit vertiefen.
Die Frage nach dem Ort einer Tier-Mensch-Schranke, also danach, um nochmals die biblische Mythologie zu bemühen, was der Apfel genau symbolisieren könnte, dessen Verzehr unsere Vertreibung aus dem Paradies zur Folge gehabt haben soll, berührt die tiefsten Fragen nach unserem Ursprungs. Auch hier wird der Suchprozeß nach einer Antwort durch das fortwirkende mythische Axiom eines absoluten Anfangs erschwert; es scheint immer noch das gesicherte Tatsachenwissen zu blockieren, daß es keine "Schranke" im Prozeß der Entwicklung der Menschen aus ihren animalischen Vorgängern gegeben hat. Wir können auch für uns selbst keinen Anfang finden.
Wie alles andere auch, so können wir uns selbst nur verstehen, wenn wir das Gewordensein erforschen. Jedoch können prozeßorientierte Forschungen niemals das Spätere mit dem Früheren erklären. Im Gegenteil: so machte bspw. Marx darauf aufmerksam, daß
die Anatomie des Menschen zwar diejenige des Affen erkläre, nicht aber die des Affen diejenige des Menschen.[34]
Schon vor mehreren hunderttausend Jahren lebten auf der Erde Menschen, worüber die paläolithischen Kulturen Zeugnis ablegen. Die Feuerstellen und Faustkeile der Paläanthropinen, wie bspw. der Neandertaler, belegen, daß bereits in der Altsteinzeit Sapiensmenschen als Jäger und Sammler zwar rein aneignend, aber eben doch planmäßig gewirtschaftet haben. Schon diese Vorfahren verfügten folglich über Frühformen eines Zeitbewußtseins. Seine Entstehung in der Phase des Pleistozäns wird von vielen Autoren im Zusammenhang mit der Anwendung von Gewalt erörtert, so bspw. von Ditfurth: "Die Ansicht, daß wir es auch hier wieder mit einer genetischen Erblast zu tun haben, ist in den letzten Jahren wiederholt geäußert worden. Am knappsten und sinnfälligsten hat diesen Zusammenhang wohl C. F. von Weizsäcker mit seiner bekanntgewordenen Formulierung ausgedrückt, daß wir 'die Erben von Siegern' seien. ... In dieser Situation durfte - und darauf spielen die Äußerungen von Weizsäcker und Mohr an - die intraspezifische Aggressionsbereit
schaft (Mensch gegen Mensch) genetisch beträchtlich an Boden gewonnen haben, in des Wortes doppelter Bedeutung. Je aggressiver sich eine schon ortsfeste Menschengruppe auf das Auftauchen noch nomadisierender, ein eigenes Revier suchender fremder Gruppen reagierte, um so größer waren ihre Chancen, das einmal erworbene Territorium behalten und darin überleben zu können."[35]
So begründet von Ditfurth den im Buch durchweg vertretenen Zukunftspessimismus letztlich mit dem Entwicklungsprozeß des Menschen während des Pleistozäns.
Im ganzen Buch tauchen immer wieder Formulierungen auf, die suggerieren sollen, wir hätten es mit einem planmäßigen Vorgang zu tun, mit einer Absicht der Natur oder mit einer Schöpfung Gottes. Und gewiß will Ditfurth nicht zur zweifellos emotional unbefriedigenden Einsicht kommen, daß über anfangslos ungeplante Prozesse gesprochen werden müßte. Gerade deshalb werden die angesprochenen Ungleichzeitigkeiten erst möglich, besser: gelernte Verhaltensmuster auf frühen Entwicklungsstufen, die sich später als unzweckmäßig oder gar äußerst schädlich erweisen können. Daß über diesen langen Zeitraum die soziale von der genetischen Vererbung ergänzt wird, hält der Verfasser für zutreffend. Zurecht verweist auch Koestler auf die prägende Bedeutung des späten Pleistozäns für die menschliche Hirnentwicklung. Allenthalben wird jedoch eine biologische
Dominanz über das Soziale in diesen Argumentationsmustern unterstellt. Wenn jedoch die These von der "genetischen Abspeicherung" tatsächlich die Realität abbildet, was bedeutet es dann, wenn nicht das sozial Erworbene gespeichert werden kann?
Grundsätzlich ist, auch wenn er selbst dies nicht unterstreicht, auch von Ditfurths Argumentation, die hier beispielhaft aufgegriffen wurde, sehr eng an die Annahme geknüpft, daß nicht nur biologische Dispositionen den Rahmen für soziales Handeln setzen, sondern daß sie ihrerseits auch durch die Figurationen sozialer Verflechtungen mitgebildet werden. Letztere wurden freilich wiederum durch biologische Zwänge mitbeeinflußt und zu dieser frühen Zeit auch in hohem Maße durch die nicht-menschliche Natur geprägt. Die Frage nach der Dominanz von Biologie oder Politologie, oder auch von Zoologie oder Physik, ist folglich müßig. Die immer gestellte und heute noch aktuelle Frage nach dem "Vorrang" des Biologischen (Angeborenen) oder des Sozialen (Erworbenen) gleicht somit der nach dem Ursprungsverhältnis von Huhn und Ei.[36]
Bekanntlich können wir unsere Vergangenheit auf der Basis gespeicherten Wissens nicht sehr viel weiter als fünftausend Jahre zurückverfolgen.
In den Zeitabschnitt kurz vor Beginn unserer Geschichtsschreibung legt Jaynes eine Entwicklung, die er in einer Arbeit über den "Ursprung des Bewußtseins" als "Neugeburt des Menschen" bezeichnet: In einer unvorstellbar kurzen Zeit von wenigen Jahrhunderten habe sich damals offenbar das Bewußtsein des Menschen radikal verändert. In dieser Zeit seien Magie und Triebhaftigkeit in den Hintergrund getreten zugunsten menschlicher Züge wie vernunftbegabtes Handeln. Der Mensch trat aus einem Stadium heraus, in dem er inneren Suggestionen ausgesetzt war, denen er folgen mußte, ob er wollte oder nicht. Er trat in eine neue Zeit ein, in der er frei genug war, um vor einer Tat Überlegungen anzustellen und die Tat eventuell zu unterlassen.[37]
Auch wenn Jaynes' temporäre Veranschlagung dieser "Neugeburt" innerhalb des anfangs- und endlosen Prozesses der Humanentwicklung einen Gegenstand keinesfalls abgeschlossener Diskussionen darstellt, so ist ihm doch darin zuzustimmen, daß der Grad an Personalität das ausschlaggebende Kriterium der Menschwerdung ist. Jedoch ist die philosophische Frage nach der Freiheit des Menschen nicht abschließend dadurch zu beantworten, daß man eine bestimmte Ära - auch in diesem Falle Mithilfe des Vernunftbegriffs - als ihren absoluten Anfangspunkt setzt. Um dem erkenntnis- wie wissenschaftstheoretisch unbefriedigendem Dilemma der Setzung eines "absoluten Nullpunkts" zu entgehen, kann man auch wie Castoriadis vorgehen, der - scheinbar paradox - sozusagen eine "Geburt der Vernunft aus dem Geist des Wahnsinns" annimmt: "Der Mensch ist kein vernünftiges Tier, wie der alte Gemeinplatz behauptet; er ist aber auch kein krankes Tier. Er ist ein verrücktes Tier, eines, das am Anfang verrückt ist und eben darum auch vernünftig ist oder werden kann. Schon im vollständigen Wahn des primären Autismus ist die Vernunft keimhaft enthalten. Daraus entspringt eine wesentliche Dimension der Religion - das ist selbstverständlich -, aber auch eine wesentliche Dimension von Philosophie und Wissenschaft."[38]
Daraus folgt, daß, erst wenn der Mensch die im Sinne Castoriadis' ihm vorgegebene "instituierte Realität" anerkannt und verinnerlicht hat, er auch dazu in der Lage ist, auf das ihm Vorgegebene schöpferisch zu reagieren und es, falls nötig, nach eigenen Bedürfnissen umzugestalten. M.a.W.: Autonom ist der Mensch erst dann, wenn er sich von Omnipotenzphantasien verabschiedet und die Endlichkeit seiner Möglichkeiten akzeptiert; gerade aus dem Bewußtsein dieser Endlichkeit erwächst eine Souveränität, die es ermöglicht, über Schwierigkeiten hinwegzugehen und neue Horizonte (auch im Sinne eines politischen Eingriffs) zu eröffnen.
"So gelangt man zu dem paradoxen Ergebnis, daß sich das Subjekt am Ende seines Sozialisationsprozesses beinahe wieder in der Ausgangssituation befindet, in der die Vorstellung als solche lustvoll war. Der Unterschied liegt jedoch darin, daß das Subjekt damals über diese Vorstellung nach Belieben 'verfügen' konnte, während sie nun vermittelt ist durch den 'Stand der Dinge', über den es keine Macht hat.
'Objektiv' konstituiert werden kann das gesellschaftliche Individuum nur unter Bezugnahme auf Dinge und andere gesellschaftliche Individuen, die es aus sich heraus nicht ontologisch zu schöpfen vermag, da sie nur in und dank der Institution sein können; 'subjektiv' konstituiert ist dieses Individuum, sobald es ihm gelingt, aus diesen Dingen und Individuen solche für es zu machen - das heißt die Ergebnisse der Institution der Gesellschaft zu besetzen."[39]
6.4 Zeitgestaltung und Sinnfragen
Es gibt, dies ist bereits deutlich geworden, keinerlei Zeit ohne den Menschen. Die Zeit ist das selbstgeschaffene Universalsymbol, mit dem sich Menschen zunächst in der nicht-menschlichen Natur orientieren, was gleichzeitig einen Abstimmungszwang innerhalb ihrer Gruppen mit sich bringt. In stetig wachsendem Maße bilden die jeweiligen Zeitsysteme die ihnen zugrunde liegenden Sozialsysteme, nämlich Herrschaftsverhältnisse, ab.
"Macht hat, wer warten kann; dieser völlig zutreffende Satz von Claus Offe müßte durch einen anderen ergänzt werden: nur der kann warten, der über die Zeit anderer verfügt",[40] schreibt Oskar Negt. Bei diesen Feststellungen, die in ihrer Allgemeinheit für alle bisherigen Gesellschaften (mehr oder minder) gelten, hatten die zitierten deutschen Sozialwissenschaftler offensichtlich diejenige im Auge, in der sie mit uns leben, in der, wie Karl Marx für die kapitalistische Gesellschaft grundsätzlich formulierte, "freie Zeit für eine Klasse produziert (wird) durch die Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit."[41]
Daß dieser Verwandlungsprozeß nachhaltigen Störungen unterliegt und sich selbst nicht zuletzt auch deshalb stets wandelt, ist allgemein bekannt; dies genauer zu untersuchen, war nicht Aufgabe dieser Arbeit.
Es ist nicht zu leugnen, daß im Zuge der Demokratisierung kapitalistisch verfaßter Zivilgesellschaften die Oberklasse ihre Herrschaft in zunehmendem Maße legitimieren muß, und zwar zunächst durch Arbeit, dem für die bürgerliche Gesellschaft - wie Max Weber deutlich herausgearbeitet hat - typischen Rechtfertigungsmuster. Wenn man sieht, welch intensiven Zeitdruck die sog. ”Leistungseliten” und diejenigen, die sich gern dazurechnen, ausgesetzt sind, und sich gleichzeitig die stetigen Arbeitszeitverkürzungen - einschließlich der Arbeitslosigkeit - für die Massen vor Augen hält, können in der Tat Zweifel entste-hen, ob sie es sind, die "freie Zeit für eine Klasse produzieren."[42]
Pierre Bourdieu, zu dem Norbert Elias seine letzten (Lebens-)Jahrzehnte engen Kontakt hielt, macht darauf aufmerksam, daß auch in modernen westlichen Gesellschaften trotz klassenübergreifender Internalisierung allgemein verbindlicher Arbeitsnormen ins Zeitbewußtsein die entsprechend häufig als Zeitverschwendung denunzierte Muße wichtiges Distinktionsmittel geblieben ist. Bourdieu zufolge "erklärt sich der Rang, den das Streben nach Distinktion all den Praktiken einräumt, die... eine reine Gratisausgabe dessen voraussetzen, was... das Wertvollste und Rarste ist, deren hoher Marktwert die sinnlose Ausgabe verbieten müßte: die Verschwendung von Zeit, Zeit für den Genuß oder Zeit zum Erwerb jener Kultur, die der adäquate Genuß voraussetzt."[43] Dieser Punkt markiert m.E. ganz zutreffend das Problem der Zeitgestaltung. Die Aneignung von Kultur, die die dazu erforderlichen Mittel nicht nur voraussetzt, sondern reproduktiv damit auch weitere - für das "Streben nach Distinktion", nach Status und Herrschaft - schafft, erscheint, wie Bourdieu treffend bemerkt, als "Zeitverschwendung".
Georges Bataille, der Theoretiker der "Verschwendung" und des "Potlatschs", hat bereits in den 50er Jahren zur "distinktiven Zeitverschwendung" der Bourgeoisie Stellung genommen. In seinem Buch "Der heilige Eros" kommentierte er einen Befund des berühmten Kinsey-Reports (1948 bzw. 1953), wonach die sexuelle Aktivität von den Unter- zu den Mittelklassen kontinuierlich abnehme, überschreite man aber die "White-collar"-Schwelle, im Bereich der oberen Klassen wieder zunehme, wie folgt: "Die Bedeutung dieses Wiederanwachsens (der sexuellen Aktivität), wenn man zur herrschenden Klasse übergeht, ist von Anfang an klar genug: Sie kennt, im Vergleich zu den vorangehenden Kategorien, ein Minimum an Muße, und der mittlere Reichtum, dessen sie sich erfreut, entspricht nicht immer einem außergewöhnlichen Arbeitspensum; sie verfügt augenscheinlich über einen Überschuß an Energie, der größer ist als bei den arbeitenden Klassen... Die Ausnahme der herrschenden Klasse hat übrigens noch eine präzisere Bedeutung. Als ich auf einen göttlichen Aspekt im Animalischen und einen unterwürfigen Aspekt im Menschlichen hinwies, mußte ich einen Vorbehalt machen: Es müsse jedenfalls in der Menschheit ein Element geben, das nicht auf eine Sache oder auf die Arbeit reduziert werden kann, so daß der Mensch schließlich schwerer zu unterwerfen ist als das Tier. Dieses Element findet sich auf allen Stufen der Gesellschaft wieder, aber vor allem ist es ein Faktum der herrschenden Klasse."[44]
Der "göttliche Aspekt" oder "das Element", von dem Bataille spricht, ist nichts anderes als das Nicht-Verfügbare oder Souveräne im Menschen, das zur "Zeitverschwendung" neigt, das aber auch als "Befreiung von der Arbeit" interpretiert werden kann, ohne die diese Souveränität nicht wäre. Auf der Ebene der Souveränität treffen sich dann paradoxerweise Subproletariat und herrschende Klasse wieder, folgt man jedenfalls Batailles Interpretation.
Das sensible Zeitgewissen läßt vermeintlich ungenutzte Zeit als "tote Zeit" erscheinen. Es bemüht sich daher antizipatorisch, nämlich durch Planung, "Leerzeiten" gar nicht erst entstehen zu lassen. So wird der Boden für den Widerspruch zwischen chronischer Zeitnot und Langeweile bereitet; denn da das Zeitgewissen vorweg alle Poren der Terminplanung schließt, sind durch die unvermeidlichen Planabweichungen Unterauslastungen oder wahrscheinlicher - denn das Über-Ich neigt zum Sicherheitsdenken - Überforderung vorprogrammiert. Der überforderte, weil "keine Zeit" habende Mensch wird so von seiner Umgebung - und von sich selbst - nicht nur als eine bedeutsame, sondern auch als eine gewissenhafte Person gesehen, was bei einer geringen Ausfüllung der Zeitplanung als Gegenteil erscheinen muß. Muße gilt folglich als unzulässig, als faul und träge. "Müßiggang ist aller Laster Anfang", spricht denn auch der Volksmund. Und da das Über-Ich nichts anderes ist als der zum Selbstzwang transformierte Fremdzwang, verbietet das Zeitgewissen der Moderne die Muße.[45] Wer "zuviel Zeit" hat, gehört zu den Außenseitern - entweder der "Zeitpioniere" oder, was als verbreiteter gelten darf, zu denjenigen, die unfreiwillig "zuviel Zeit" haben. Jene haben zu leiden unter der Langeweile, unter ihrem Ausgegrenztsein, unter ihren "Zeitgewissensbissen",
unter der Sinnlosigkeit, als die ihnen in vielen Fällen ihr Leben erscheint. Sinnfragen stellen sich jedoch allen anderen auch, nicht zuletzt denjenigen, denen das Streben nach sozialer Distinktion zu gebieten scheint, keine Zeit zu haben, oder besser: keine Zeit zu "verschwenden".
Die Unterscheidung zwischen Menschen in Zeitnot und Menschen in Langeweile kann dabei allenfalls deskriptiven Wert haben - bspw. für die Illustration psychischer Folgen der heutigen Tendenzen des Arbeitssystems. Von analytischer Bedeutung ist eine solche vereinfachte Aufteilung keinesfalls; denn es ist gerade der breite Bevölkerungsschichten erfassende Individualisierungsschub, der dazu führt, daß sich alle Mitglieder der westlichen Gesellschaften in starkem Maße vor Probleme in ihrer Zeitgestaltung gestellt zu sehen scheinen. Hier liegt der Grund dafür, daß das Thema "Umgang mit der Zeit"[46] gegenwärtig Hochkonjunktur hat, daß für die Lösung von Sinnfragen Antworten im Rahmen des Zeitthemas gesucht werden.
Was für das Zeitthema im engeren Sinne gilt, gilt erst recht für den Bereich der Politik. Politik, wie sie im Rahmen der repräsentativen Demokratien der westlichen Welt praktiziert wird, gerät zunehmend selber unter einen Zeit- und Entscheidungsdruck, dem die Politiker - siehe etwa das Stichwort
"Politikverdrossenheit" - offenbar immer weniger gerecht zu werden vermögen. So fliehen viele Politiker in "symbolische Politik" (Thomas Meyer), in die Simulation politischer Pseudo-Entscheidungen, in einen inszenierten Schein, der aber an der Wirklichkeit realgesellschaftlicher Abläufe wenig bis gar nichts zu ändern oder zu korrigieren vermag. Und selbst Manager großer Banken tun nichts anderes, als die mediale Inszenierung von Kompetenz an die Stelle sachlicher Auseinandersetzungen zu setzen. Der bei einem RAF-Attentat gegen Ende des Jahres 1989 ermordete Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, sagte kurz vor seinem Tod in einem Interview folgendes zum Thema der Präsentation von Wirtschaft und Politik in den Medien: "Dabei zeigt sich die angesichts der komplexen Wirklichkeit oftmals unvermeidliche Fragmentierung der Sachverhalte, für die die Menschen wegen der intellektuellen Entropie nach Orten der Gewißheit suchen. Solche Orte vermuten sie in den Medien, die mit ihrer subtilen Kodifizierung auch dort Verstehen vermitteln (müssen), wo die Wirklichkeit uns schwer verständlich ist... Ich bekenne, diese konstruierte Evidenz bereitet uns Schwierigkeiten. Denn sie erlegt uns eine zweite Sicht und Verhaltensweise auf, an die wir noch nicht gewohnt sind. Neben der Alltagspflicht nüchterner Realitätsbewältigung... geht es um die engagierte Vermittlung unumstößlicher, wenngleich nur simulierter, Realitätsgewißheit. Das ist schwer, weil jetzt nicht mehr Inhalte bestimmen, sondern die Art und Weise ihres formalen und personalen Transports."[47]
Das Leben hat a priori keinen Sinn; vielmehr steht jedes Individuum vor der Aufgabe, seinem Leben einen Sinn zu geben. Dies kann es freilich nur im Rahmen der vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich im Gegensatz zu früher als biographische Orientierungspunkte mehrmals während einer Lebenszeit ändern.
Historische Entwicklungen haben auch a posteriori keinen Sinn; da aber die aus der Vergangenheit gewordene Gegenwart die Entwicklungsbedingungen der Zukunft markieren wird, werden die Nachgeborenen erfassen können, was das sozial Prägende unserer Zeit darstellt. Der Sinnbegriff macht in diesem Zusammenhang nur dann Sinn, wenn ein Ziel in die Überlegungen mit einfließt. Daß der Sozialprozeß kein Ziel hat, ist hier nochmals anzumerken, da ich zum Schluß André Gorz zitieren möchte. Er hat - im Gegensatz zur Geschichte - sehr wohl ein Ziel, und zwar eine politische Utopie, wenn er die Hoffnung äußert:
"Das Konzept einer Gesellschaft der befreiten Zeit, in der alle Arbeit finden, aber immer weniger ökonomisch zweckbestimmt arbeiten müssen - dieses Konzept ist der mögliche Sinn der gegenwärtigen historischen Entwicklung."[48]
[1] Vgl. etwa Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 499.
[2] Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur, S. 133.
[3] Fraisse, P.: Psychologie der Zeit, S. 291.
[4] Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 350 f.
[5] Vgl. hierzu: Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 333.
[6] Dohrn-van Rossum, G.: Die Geschichte der Stunde, S. 12.
[7] Berger, P.L./Luckmann, Th.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 192.
[8] Natürlich hat es immer wieder Revolten gegen die Zeit gegeben. Daß es überhaupt Vorstellungen von Zeitlosigkeit und Ewigkeit gibt, zeigt allein schon die perennierende Aktualität der "Revolte gegen die Zeit" an. Als die Revolutionäre der Pariser Commune von 1871 auf Kirchturmuhren schossen, wollten sie mit diesem symbolischen Akt wohl nicht nur ein neues Zeitalter zum Ausdruck bringen, sondern auch die "anthropologische" Sehnsucht des Menschen, dem Zeitkontinuum zu entkommen.
[9] Dem widerspricht auch nicht die Renaissance sog. "Tauschbörsen", auf denen ohne Geld eine Dienstleistung gegen eine andere getauscht wird. Derartige Versuche in den 20er und 30er Jahren vor allem in Deutschland und Österreich, wurden später endgültig verboten. Auch Tauschbörsen kommen ohne eine "imaginäre" Währungen nicht aus. Diese Börsen fußen auf der sog. "Freigeld"-Theorie des Anarchisten Silvio Gesell. Zu den zeitgenössischen Tauschbörsen vgl. etwa Steube, M.: Auch ohne Moos was los, S. 42-43.
[10] Auch die oben erwähnte Tauschbörsen können als reflexive Modernisierung des Geldes betrachtet werden, selbst wenn ihren Befürwortern vorgeworfen wird, sie wollten zum Naturaltausch zurückkehren, was m.E. ein Mißverständnis darstellt.
[11] Es sei hier nur am Rande darauf verwiesen, daß "die biblische Zeitgliederung in der frühen Neuzeit 'Ökonomie der Zeit' hieß." (Dohrn-van Rossum, G.: Geschichte der Neuzeit, S. 13.
[12] Kuhn, T.: Der Preis der Zeit, S. 13 f.
[13] Rinderspacher, J.: Gesellschaft ohne Zeit, S. 294.
[14] Lyotard, J.-F.: Zeit heute, S. 159.
[15] Schöps, M.: Zeit und Gesellschaft, S. 131.
[16] Zit. n. Marx, K. in: MEW 26. 3., S. 251.
[17] Schwengel: Jenseits der Ideologie des Zentrums, S. 67.
[18] Gendolla, P.: Zur Geschichte der Zeiterfahrung, S. 51.
[19] Altvater, E.: Grausame Globalisierung - "Da hilft nur noch Entschleunigung", S. 18.
[20] Pörtner, K.-W.: Erkenntnistheoretische Topiklehre, S. 126.
[21] Schwengel, H.: Jenseits der Ideologie des Zentrums, S. 526, Fn. 131.
[22] Negt, O.: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, S. 147.
[23] So Servan-Schreiber, J.L.: Die 90-Minuten-Stunde, S. 47.
[24] Elias, N.: Über die Zeit, S. 5 f.
[25] Ebd., S. 44 f.
[26] Ebd., S. 52.
[27] Wendorff, R.: Zeit und Kultur, S. 482.
[28] Norbert Elias über sich selbst, S. 71.
[29] Noch mehr als die Klinische Psychologie im engeren Sinne ist es die Psychotherapie, die in den letzten Jahren zusehends prozeßorientierte, systemische Ansätze verfolgt, z.B. in der Familientherapie. Vgl. etwa Kempler, W.: Erlebnisaktivierende Familientherapie - Psychotherapeutische, wachstumsorientierende, systemische Interventionen, Paderborn 1989.
[30] Fraisse, P.: Psychologie der Zeit, S. 9.
[31] Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 497.
[32] Vgl. Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 495 f.
[33] Vgl. hierzu bspw. Arzt, V./Birmelin, I.: Haben Tiere ein Bewußtsein?
[34] Aus erkenntnistheoretisch-epistemologischer Sicht macht K. W. Pörtner darauf aufmerksam, daß es an dieser Stelle nötig sei, "an die hegel'sche 'Eule der Minerva' zu erinnern: damit ist gemeint, daß man weniger komplexe Systeme nur mit den Maßstäben einer höheren Komplexitätsstufe 'beurteilen' kann, es aber umgekehrt einem 'naturalistischen Fehlschluß' gleicht, Systeme höherer Komplexität an den Vorgaben unterkomplexer zu orientieren." (Pörtner, K.-W.: Erkenntnistheoretische Topiklehre, S. 131).
[35] Ditfurth, H. von: So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, S. 319 ff.
[36] Ähnliches habe ich ja schon bezüglich des Materialismus-Idealismus-Problems ausgeführt. Vgl. Kap. 2.
[37] Vgl. Jaynes, J.: Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche.
[38] Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 496.
[39]Ebd., S. 521. - Anfang November 1993 hat in Düsseldorf der interdisziplinäre Kongreß "Zukunftswege der Hirnforschung" stattgefunden, an dem sich Biologen und Physiker, Neurologen und Soziologen, Psychologen und Philosophen beteiligt haben. Zwar bestanden traditionelle Konfliktlinien in ethischen Fragen oder im Dualismus-Streit fort; doch bestand Einigkeit darüber, daß Jahrhunderte alte kulturelle Einschätzungen über das menschliche Gehirn durch den Wissenszuwachs - insbesondere der letzten Jahre - ins Wanken geraten sind. Diese Debatte kann hier nicht aufgegriffen werden; ich begnüge mich an dieser Stelle mit einer treffenden Bemerkung Grüssers über "Zeit und Gehirn": "Gehen wir von der metaphysischen Hypothese aus, daß objektive Zeit auch ohne den Menschen sei, so gilt der Satz, daß das menschliche Gehirn jener Ort im Weltall ist, wo sich objektive und subjektive Zeit treffen." (Grüsser, O.J.: Zeit und Gehirn, S. 17).
[40] Negt, O.: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, S. 20.
[41] Marx, K.: Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 552.
[42] In jüngster Zeit kommen Tendenzen auf, die im Namen der "Globalisierung" und der "Wettbewerbsfähigkeit" vermehrt wieder von Arbeitgeberseite durchgesetzt werden, die noch vorhandenen Belegschaften (Stammbelegschaften) bei gleicher Bezahlung länger arbeiten zu lassen, wobei es sich dabei nicht um "Überstunden" handelt, sondern um Normalarbeitszeit. Das Motto lautet hier: "Mehr Arbeit bei gleichem (oder weniger) Lohn". Man kann also nicht von einem generellen Trend zur Arbeitszeitverkürzung sprechen, sondern diese Entwicklungen sind von Branche zu Branche unterschiedlich. Als einheitliches Resultat dieser divergierenden Arbeitszeitmodelle erhält man allerdings eine wachsende Disparatheit und Zerstückelung gesellschaftlicher Zusammenhänge, sprich: Desolidarisierung. Vgl. auch Negt, O.: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, S. 39-120.
[43] P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 440.
[44] Bataille, G.: Der heilige Eros (L'Érotisme), S. 155.
[45] Was auch als Vorbehalt oder Ressentiment gegen die herrschende Klasse in dem Spruch zum Ausdruck kommt: "Wasser predigen - Sekt saufen". Freilich steckt in diesem Ausspruch - im Gegensatz etwa zu "Müßiggang ist aller Laster Anfang" - ein quasi "klassenkämpferisches" Moment: die Heuchelei der Herrschenden wird angeprangert, daß diese von anderen etwas verlangen, was sie sich selbst nie zumuten würden. Nicht zuletzt beinhaltet der Slogan auch einen utopischen Moment: die Sehnsucht nach "Luxus für alle", oder, gemäß einem Slogan der linken Sponti-Subkultur der 70er Jahre: "Wir wollen alles, und zwar jetzt!".
[46] Die Auflistung entsprechender Beraterliteratur aus den letzten Jahren füllt mehrere Seiten; auf ihre Aufnahme in das Literaturverzeichnis habe ich verzichtet. Ferner kann ich nicht umhin, an dieser Stelle auf die Existenz von PC-Programmen mit "Zeitmanagementsystemen" hinzuweisen.
[47] Herrhausen, in: taz vom 2.12.1989, zit. n.: Meyer, Th.: Die Inszenierung des Scheins., S.172.
[48] A. Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, S. 313.
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