nicht so schlimm

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Am 29.12.2007 berichtet die NRZ / WAZ Duisburg-West über einen mir seit langem bekannten Leidensgenossen:
ein vom Hals abwärts gelähmter Rheinhauser kämpft gegen die Rückstufung seiner Pflege-Ansprüche. Joachim Behrendt ist pflegebedürftig: Vom Hals abwärts kann der MS-kranke Rentner seine Muskeln nicht bewegen. Mit dem Kopf steuert er seinen Rollstuhl, mit dem Mund seinen Computer ... deshalb reduziert die Pflegeversicherung ab Januar ihre Leistungen für Behrendt von Stufe III auf Stufe II...

Multiple Sklerose (MS)

Über die MS kursieren die abenteuerlichsten Vorstellungen. Menschen, die einerseits keine oder falsche Vorstellungen darüber haben, wofür eigentlich diese Abkürzung steht („Muskelschwund, oder?“), wissen andererseits ziemlich genau Bescheid, was es mit dieser Erkrankung auf sich hat. Denn irgendwie kennt jeder jemanden, der schon einmal von einem gehört hat, dessen Mutter eine Kusine hat – schlimm, schlimm ... die ist dann auch daran gestorben.

Dies ist zwar alles ziemlicher Tinnef, man kann an MS nämlich gar nicht sterben, und dass „man im Rollstuhl landet“, ist längst keine ausgemachte Sache, wenn man so mit Mitte, Ende zwanzig die Diagnose vor den Latz geknallt bekommt. Wobei: „man“ ist gut, es sind doppelt so viele Frauen wie Männer, die an MS erkranken. Was die Frauen mit den Männern gemeinsam haben: mit allem Möglichen haben sie gerechnet, nur eben damit nicht! Was die Frauen von den Männern unterscheidet: viele rufen nach der Diagnose einen Berater an. In Duisburg und Umgebung also zum Beispiel mich.

Männer neigen nicht so dazu. Wir Männer haben zwar auch so unsere Probleme; aber wir werden schon irgendwie damit fertig. Zähne zusammenbeißen und so! Jedenfalls haben wir es nicht nötig, bei so einem Psycho-Heini anzurufen! Was soll das denn schon bringen?! Schließlich haben wir ja nichts mit Psycho und so, sondern nur das halbe Gesicht taub, oder wir sehen doppelt, oder wir kriegen keinen mehr hoch – aber das geht nun echt niemanden etwas an! Psycho nein, nur ein bisschen nervenkrank.

Frauen sind da offener, und zwar ziemlich offen in Panik. Zwar müssen die weder einen hoch kriegen noch sonst wie dem Herrn der Schöpfung dergestalt was zu bieten haben, dass sie gleich die ganze Familie mit ernähren. Aber einen Krüppel im Schlepptau mit sich rumtragen, will auch der moderne Mann von heute nicht. Außerdem sollte der Haushalt schon gemacht sein. Und überhaupt: kann ich überhaupt, darf ich überhaupt noch ein Kind kriegen – oder gar zwei. Und – zumindest halbtags – arbeiten wäre ja auch ganz schön.

Diagnose MS: da war doch nur so´n Jucken oder Zucken, Kribbeln oder Hibbeln – und dann so was! Lebensperspektive kaputt, Existenzberechtigungsschein zur Disposition gestellt. Denn die Kusine von der Mutter von dem Freund meines Freundes ... oh, oh, oh. Und dann habe ich die am Telefon, wollen nur mal fragen, wo man einen Schwerbehindertenausweis beantragen kann, oder ob die Spritze A wirklich besser ist als die Spritze B. Kurze Plauderei, Ergebnis: will man, äh: frau eigentlich gar nicht wissen. Die Gedanken drehen sich im Grunde nur um die „suicide solution“ (Ozzy Osbourne. nowhere to hide, suicide ... is the only way out). Ich sage dann immer:

so schlimm ist das nun wirklich nicht

Nehmen Sie doch zum Beispiel mal mich! Nein, nicht unbedingt für die von Ihnen ins Auge gefasste Schwangerschaft, ich kenne Sie doch gar nicht. Allerdings: egal was Ihnen der ein oder andere Wald-und-Wiesen-Arzt sagt: so eine Schwangerschaft hat nachweislich einen positiven Einfluss auf den Verlauf Ihrer MS. Wobei nach der Schwangerschaft so ein Kind freilich gewisse Pflichten für Sie mit sich bringt. Aber ist ja vielleicht auch eine tolle Sache! So ein Kind ganz bestimmt – Pflichten meinte ich jetzt.
Also noch mal: nehmen Sie doch zum Beispiel mal mich! Ich habe jetzt diese Seuche (keine Panik: nicht ansteckend) mindestens seit 23 Jahren im Körper. Okay, dieses kaputt, jenes auch – aber geht doch. Einstellungssache! Das mit der Pflicht hat sich erledigt; jetzt kommt die Kür. An und für sich ein wunderschöner Satz, nur: welche Kür? Man (schon gar nicht), aber auch frau weiß ja gar nicht, wie man / frau so was eigentlich macht. Einfach mal der Gesellschaft ein bisschen auf der Tasche liegen, und dann in aller Ruhe und Gelassenheit sehen, was geht und was nicht geht. Ich gebe zu: das will gelernt sein. Das Blöde bei der MS: gerade hat man den Bogen so einigermaßen raus, kommt ein neuer Schub, geht etwas Anderes kaputt, und der Lernprozess beginnt von Neuem. Lebenslanges Lernen als Pflichtveranstaltung! Dafür jedoch die einzige Pflicht.
Ansonsten sieht die Sache gut aus. Die pharmakologische Forschung macht Riesenfortschritte. Wenn die Sache mit dem lebenslangen Lernen, also der Krankheitsakzeptanz einigermaßen beherzigt wird, und ein guter Neurologe die richtigen Substanzen verabreicht, wüsste ich nicht, was Schlimmes passieren sollte.

Dazu habe ich jedoch zwei Dinge zu ergänzen:
erstens sage ich immer: die beste Krankheit taugt nichts, und
zweitens darf ich daran erinnern: ich habe hier mit, sagen wir: über eine Neudiagnostizierte im zarten Alter von um die oder unter 30 gesprochen.

vom Hals abwärts gelähmt

Etwas anders sieht die Sache bei dem eingangs zitierten Joachim Behrendt aus. Der ist nämlich 70 Jahre alt; seit 30 Jahren ist er an MS erkrankt. Und 1977 gab es medizinisch gegen die MS nichts, gar nichts! Um nicht als völlig hilflos zu erscheinen, hatten die Ärzte damals Vitamin B verschrieben (haha, nicht die Beziehungen, sondern die „Nervenmineralien“). Das war zwar Quatsch, aber die Ärzte standen nicht so blöde da, und die Patienten mussten wenigstens an ihre Pillen denken, hatten also das Gefühl, dass sie ein bisschen mitwirken können beim „Kampf gegen die Krankheit“. So wichtig ein Placebo auch sein mag, Herrn Behrendt konnte es naheliegenderweise nicht helfen. Mit jedem MS-Schub ging mehr und mehr kaputt.
Als vor etwa 15 Jahren die erste halbwegs nützliche Pille auf den Markt kam, als vor etwa 10 Jahren die umso nützlicheren Spritzen zugelassen wurden, war es für Joachim Behrendt jedes Mal bereits zu spät. Jetzt sieht es so aus, wie von der NRZ / WAZ beschrieben:

Vom Hals abwärts kann der MS-kranke Rentner seine Muskeln nicht bewegen. Mit dem Kopf steuert er seinen Rollstuhl, mit dem Mund seinen Computer – ansonsten kann der 70-jährige Witwer im wahrsten Sinne des Wortes keinen Handschlag tun.

Und dann kommt so ein Herr Doktor vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen vorbei, fragt – pflichtgemäß – Herrn Behrendt klitzeklein aus, trägt die fürs Duschen, Anziehen, Füttern etc. vorgeschriebenen Pflegezeiten in sein Formular ein, und zack: da haben wir den Salat. In der Summe ergeben sich zwar mehr als drei Stunden täglicher Pflegebedarf, aber eben keine vier. Das ist eine Frage des Geldes, klar. Aber eben nicht nur das. Joachim Behrendt hat das Gefühl, als Simulant abgestempelt zu werden, als jemand, der schamlos die Pflegekasse plündern will. Nur: er ist vom Hals abwärts gelähmt.
Herr Behrendt ist wirklich kein Simulant; ich kenne ihn nämlich. Die Sache verhält sich so, wie im Artikel beschrieben. Die Geschichte ist, wäre sie nicht so ärgerlich, an und für sich zum Kaputtlachen. Wenn die Pflegestufe Drei Herrn Behrendt nicht zusteht, frage ich mich, wem denn dann?! Soll ich mal vorrechnen, wie viel Geld die Pflegekasse dadurch spart, dass Behrendt eben nicht aufgibt und ins Heim geht?

Werner Jurga, 31.12.2007 

 

[Jurga] [Home] [März 2010] [Marxloh stellt sich quer] [Februar 2010] [Januar 2010] [2009] [2008] [2007] [Oldies] [2007 / 2008] [Tagebuch 2007] [Texte Dez. 2007] [Texte Nov. 2007] [Texte Okt. 2007] [Texte Sept. 2007] [Texte Aug. 2007] [Kontakt]