Realitätsbezug

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Heute ist es endlich so weit, die Antwort auf die Frage aller Fragen:

Brandt oder Jäger ?

Heute wird die Duisburger SPD bekannt geben, ob Jürgen C. Brandt oder Ralf Jäger bei der Kommunalwahl im nächsten Jahr für die SPD als OB-Kandidat antreten. Mir ist es ziemlich egal. Das habe ich mit der hiesigen Linkspartei gemein: für die Linken ist es nämlich auch „völlig unerheblich“. Denn beide stehen für den „neoliberalen Kurs der SPD“. Wer eigentlich nicht ? Abgesehen von der Linkspartei, versteht sich. Deshalb soll man die ja auch wählen.
Und weil die SPD ja „neoliberal“ ist - möglicherweise selbst diejenigen in der SPD, die ebenfalls ständig andere vorwurfsvoll „neoliberal“ schimpfen, und sich ebenfalls selbst „Die Linken“ nennen -, also weil die gesamte SPD dem „Neoliberalismus“ verfallen ist, mag man sich auch nicht wundern über den Titel dieses Artikels in der heutigen WAZ Duisburg:

Linke zweifelt SPD-Werte an

„Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität“, die Werte der SPD, woran zweifelt da die Linkspartei. Im Zweifel für die Freiheit, sagt man so. Zweifeln die Linken nun daran, ob die SPD für die Freiheit ist? Oder zweifelt die Linkspartei, ob Freiheit ein Wert an sich ist? „Liberal“ ist das romanische Adjektiv für „Freiheit“. Ob das was Gutes verheißen kann, wenn „neoliberal“ des Teufels ist? Kann Neomarxismus lieb sein, wenn Marxismus böse ist? Sind Neonazis eigentlich schlimmer oder nicht ganz so schlimm wie Nazis? Hat Neo-Angin etwas mit Angina zu tun? Und: kann mir irgendein Linker – innerhalb oder außerhalb der Linkspartei – mal erklären, was „neoliberal“ bedeutet. Und: für den Fall, dass dies ein Synonym ist für „wirtschaftsliberal“, „marktradikal“ oder dergleichen, warum dann ausgerechnet „neoliberal“ der semantische Kampfkracher ist?
Zurück zu den Duisburger SPD-Werten: nein, es geht nicht um die Freiheit, auch nicht – wenn auch schon eher – um Gerechtigkeit und Solidarität, es geht um eine von den Duisburger Sozialdemokraten an ein Meinungsforschungsinstitut in Auftrag gegebene Untersuchung. Klar: Super-Werte für die SPD. Und daran zweifelt Horst Werner Rook, Pressesprecher der Duisburger Linken. Liberal, wie ich nun einmal bin, gestehe ich zu:

Zweifel erlaubt

Schließlich halten wir es mit Churchill und glauben nur Statistiken, die wir selbst ge... – in Auftrag gegeben haben. Schließlich bildet der Zweifel die Grundlage der Aufklärung. Hmm, wie soll ich Dir das jetzt erklären, lieber Horst Werner? Aufklärung? – Also okay, ist noch nicht Marx, aber so ganz ohne geht´ s auch nicht, sagen wir so: Marx ist so eine Art „Aufklärung plus“.
Deshalb ganz wichtig: für Neomarxisten, Neoliberale und Andere (falls es da noch welche geben kann): Realitätsbezug. Den spricht nämlich Rook der Duisburger SPD ab. Ich nehme mal wohlwollend an, wegen der Interpretation der Umfragewerte.
Im Artikel schließt sich aber an den Vorwurf des mangelnden Realitätsbezugs an: „Die SPD sei u.a. dafür verantwortlich, dass durch die Agenda 2010 mittlerweile jeder neunte Erwerbsfähige in Nordrhein-Westfalen auf Hartz IV angewiesen sei und 70 000 Duisburger Bürger von Transferleistungen leben müssten.“

„... und schuld daran ist nur die SPD“

Ist Ihnen das „u.a.“ aufgefallen? – Man mag sich gar nicht ausmalen, wofür die SPD noch alles verantwortlich ist. Tatsache ist, dass die SPD für die Agenda 2010 im allgemeinen, für Hartz IV im besonderen verantwortlich ist. Ob nun gerade die Duisburger SPD im allgemeinen oder Jürgen C. Brandt und Ralf Jäger im besonderen dafür verantwortlich sind? Schwer zu sagen; so schwer, dass Rook sich nicht einmal die Mühe macht, nach Belegen hierfür zu suchen. Ich vermute, bei Brandt könnte eher etwas zu finden sein als bei Jäger. Ein Grund dafür, dass ich eher für Brandt als SPD-Kandidaten bin; denn ich halte und hielt die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht nur ökonomisch, sondern auch für sozial geboten.
Dass Sozialhilfeempfänger mit Hartz IV eine Idee mehr Geld erhielten als vorher, mag ja vernachlässigt werden. Warum sich aber die Linken (in der gleichnamigen Partei wie in der SPD) so sehnlich eine Schlechterstellung der vom Arbeitsmarkt – und damit gesellschaftlich – Ausgegrenzten zurückwünschen, wird mir ein Rätsel bleiben. Besser gesagt: würde mir ein Rätsel bleiben. Denn ich weiß, dass diejenigen, die ständig ihre vermeintliche Solidarität mit den Ausgegrenzten bekunden, stockkonservative Anhänger des Arbeitsethos´ sind. „Arbeit, Arbeit, Arbeit!“ plakatierte vor nicht langer Zeit die SPD. Und damit wir auch genau wissen, welche Arbeit gemeint ist, hat – vor kürzerer Zeit – die PDS an der Litfasssäule ergänzt: „Lohnarbeit JA!“

Realitätsbezug

Ja, von mir aus. Keine Sorge: ich fange jetzt nicht an, marxologisch rumzuspinnen. Obwohl: wenn man sich schon auf den Begründer der modernen Sozialwissenschaften beruft, darf durchaus mal darauf hingewiesen werden, dass der Emigrant aus Trier die Lohnarbeit prinzipiell abgelehnt hat. Okay, dafür kann sich keiner was kaufen. Aber von Eurem „weg mit Hartz IV!“ auch niemand. Und denjenigen, die nun wirklich nicht arbeiten können, weil sie krank oder behindert sind, würde es richtig gehend schaden. Genau wie denjenigen, die nun wirklich schwer ins Arbeitssystem zu integrieren sind, z.B. weil sie kein Deutsch sprechen. Und denjenigen, die einwandfrei Deutsch sprechen, aber nur deshalb keine Lehrstelle finden, weil sie Türken sind oder sonst wie nicht Deutsch genug aussehen. Und den Mädchen, die die Hauptschule ohne Abschluss verlassen- als alleinerziehende Mütter und jetzt das zweite Mal schwanger sind.
Ja ja, ich weiß schon: all denen wollt ihr freilich nichts Böses. Die sollen ruhig weiter ihr ALG 2 erhalten, gewiss plus zwanzig Prozent. Und diejenigen, die schon einmal „geklebt“ haben, erhalten wieder die gute, alte Arbeitslosenhilfe. Frage: reichen da 56 % des letzten Nettolohns oder sollte man über 60 % gehen?
Ja ja, ich weiß, niemandem wird etwas weggenommen? – Außer natürlich den Aktiengesellschaften, den Aktionären, den Reichen, den Besserverdienenden (ab ? – schwer zu sagen) und dem Rüstungshaushalt.
Ja ja, ich weiß, dass 70 000 Duisburger Bürger von Transferleistungen leben müssen, ist die Duisburger SPD schuld, der überdies vor allem eins fehlt: der Realitätsbezug.

Werner Jurga, 10.04.2008

P.S.: der andere Vorwurf an die SPD: „Selbstbeweihräucherung“; geschenkt: da genügt ein Verweis auf den Schluss des Artikels.

 

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