Xinjiang in der Presse

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Am Sonntag Abend, bei uns also in der Nacht zum Montag, wurden in Urumqi, der Hauptstadt Xinjiangs, 156 Menschen ermordet. Die elektronischen Medien, also Fernsehen, Radio und Internet gaben schon Anhaltspunkte dafür, wie die Presse am Dienstag über das Blutbad in Xinjiang berichten wird.

Von Zusammenstößen und auch von Unruhen hatte ich in den Online-Ausgaben der angesehenen deutschen Zeitungen gelesen und deshalb geahnt, welcher Stuss uns vorgesetzt wird. Aber dem martialischen Wort Aufstand hatte ich nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, und vor allem: nie und nimmer hätte ich für möglich gehalten, in welch einen Rausch sich deutsche Redaktionen hineinschreiben können, wenn sie sich wie Freiheitskämpfer fühlen, die einem kommunistischen Polizeistaat die Stirn bieten. Was sich in den letzten Tagen im deutschen Blätterwald abspielte, haben wir seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr erlebt. Eine kleine Kostprobe gefällig.
Am Dienstag Morgen hielt ich die WAZ in den Händen. Riesen-Aufmacher auf Seite Eins:

China schlägt Unruhen von Muslimen nieder: 150 Tote

Man beachte den Doppelpunkt. Er ist konsekutiv, d.h. er markiert eine Konsequenz. China, also wahrscheinlich der chinesische Staat, schlägt nieder; die Folge: 150 Muslime sind tot. Okay, so hat es niemand gesagt. Andersherum, also kausal. 150 Menschen sind tot, weil Muslime niedergeschlagen wurden. Würden Sie jetzt annehmen, dass die Toten Nichtmuslime sind?!
Dieser Aufmacher steht leider nicht im Netz; aber der Westen bietet Ihnen dieses hier an: Gewalt - Uiguren prangern China wegen Ausschreitungen an.
Nichts gegen die WAZ-Gruppe; in diesem Stil wurde im gesamten deutschen Blätterwald den ganzen Dienstag bis zum Mittwoch Nachmittag verwirrt, getäuscht und gefälscht. Die antikommunistischen Freiheitskämpfer kamen selbst dann von ihrem Trip nicht herunter, als die Meldungen sich verdichteten, dass inzwischen – also am Dienstag – sich der chinesische Mob zur „Rache“ gerüstet und möglicherweise Uiguren – am Mittwoch – gelyncht hat.

Spiegel Online schreibt: Exil-Uiguren berichten von 800 Toten in Xinjiang und macht sich deren Lesart zu eigen. Da will die FTD nicht hinten anstehen (Uiguren berichten von Gräueltaten), hält aber wenigstens konsequent den Konjunktiv durch. Und auch alle anderen machen munter mit. Dies lässt sich belegen – wenigstens im Großen und Ganzen. Es ist ganz eigenartig. Die deutschen Medien geben ein Bild ähnlich wie die Lage in Xinjiang selbst. Es ist verschwommen, sehr unübersichtlich. Man weiß nicht genau, was passiert ist, und schon gar nicht, wie es weitergehen wird.
Nehmen wir zum Beispiel diesen Artikel aus der Frankfurter Rundschau. Er trug ursprünglich den Titel

Unruhen in China: "Sie schlagen jeden, der Uigure ist"

Gestrichen. Er heißt jetzt: Unruhen in China - Misstrauen auf beiden Seiten.
Ähnliches muss auch in der Redaktion von ARD Aktuell abgelaufen sein. Während die Hauptsendung, also die 20-Uhr-Tagesschau, noch durchaus passend im Kampfanzug hätte vorgetragen werden können, vollzog sich in den Stunden bis zu den Tagesthemen offenbar ein Sinneswandel, der zumindest bis zum Nachtmagazin anhielt. Sie können sich dies alles in der ARD Mediathek ansehen, sollten sie an meiner Darstellung zweifeln.

Mitten im Linienschwenk entstand der Bericht, den Henrik Bork, der sich gegenwärtig in Urumqi aufhält, am 08.07.2009 um 22:54 Uhr für die Süddeutsche fertig bekommen hat. Wer weiß, ob sich die Heimatredaktion Überschrift und Schlagzeile ausgedacht hat?

Unruhen in Xingjiang - Friedlicher Protest mit blutigen Folgen

So weit, so gut – im Trend. Henrik Bork scheint noch nicht so genau zu wissen, was man darf und was nicht (er ist ja auch fern der Heimat); also schreibt er:
Die Unruhen in Urumqi begannen als kleine Demonstration uigurischer Studenten - und eskalierten, bis die Stadt fast im Chaos versank.
Man kann ja gar nicht vorsichtig genug sein. Weiter:
Was als friedliche Demo begann, eskalierte dann unter bislang nicht völlig geklärten Umständen zu Unruhen, in deren Folge nach offiziellen Angaben …
Zu deutsch: es muss nicht stimmen, und man weiß auch nicht warum. Jedenfalls sind Uiguren per se schon einmal friedlich, so dass eigentlich unerklärlich bleiben muss, dass
… 156 Menschen ums Leben kamen und mehr als 1000 verletzt wurden.

Haben Sie jetzt eine Ahnung, welcher Abstammung die Opfer wohl gewesen sein könnten? – Spielt ja auch keine Rolle, schließlich sind wir nicht so rassistisch verhetzt wie die da in Zentralasien. Außerdem sind die Chinesen auch keinen Deut besser:
Nachdem am Sonntag offenbar eine unbekannte Zahl von Han-Chinesen von randalierenden Uiguren ermordet worden waren, hatten sich am Dienstag viele Chinesen in Urumqi mit Eisenstangen und Knüppeln bewaffnet.
Han-Chinesen von randalierenden Uiguren „ermordet“ – nun ja. Eine unbekannte Zahl, es müssen freilich nicht 156 gewesen sein. Vielleicht waren ja auch Uiguren unter den Opfern. Also ganz normale Uiguren, Studenten zum Beispiel. Und nicht unnormale, wie z.B. arbeitslose Jugendliche. Bork zitiert einen Augenzeugen
"Als die Studenten den Basar im Zentrum der Stadt erreichten, mischten sich arbeitslose Jugendliche unter die Menge. Dann begann die Gewalt ..."
Wenn er uns jetzt auch noch erklären könnte, warum der normale uigurische Jugendliche studiert, der nicht ganz normale jedoch arbeitslos ist, was dazu führt, dass die Protestbewegung getragen wird von den Studenten und nicht etwa von den Arbeitslosen … nun gut: wenn sich die Linie ändert, sieht man manchmal ziemlich doof aus.

„Bei pogromartigen Übergriffen von Uiguren gegen han-
chinesische Mitbürger starben mindestens 156 Menschen

Wenn ich nur wüsste, welcher Koller in die Deutschen gefahren ist. Schon in Österreich wird Klartext formuliert. Das führende Blatt der Standard spricht von einem Aufruhr, bei dem in der Nacht auf Montag bei pogromartigen Übergriffen von Uiguren gegen han-chinesische Mitbürger mindestens 156 Menschen starben und 1080 verletzt wurden.
Und auch vom Dienstag, als vom Nachmittag an zuerst 3000 Han-Chinesen mit Knüppeln und Messern durch die Straßen Urumqi mit Rufen nach Rache und Vergeltung zogen und die Provinzführer eine nächtliche Ausgangssperre anordnen mussten.
Die chinesische Polizei hat also uigurische Bürger vor einem Rachefeldzug bewaffneter Chinesen geschützt. Dies belegt auch Bild Nr. 5 der Standard-Bilderserie: Urumqi am Dienstag: Paramilitärische Polizei stoppt demonstrierende Han-Chinesen.

Agence France Press (AFP) berichtet über ein Statement des Dalai Lama:
Dalai Lama fordert von China Zurückhaltung in Krisenprovinz: Peking müsse in einem "Geist von Verständnis und Weitsicht" mit der Situation in Xinjiang umgehen.

Wenn ich nur wüsste, welcher Koller in die Deutschen gefahren ist.

Werner Jurga, 09.07.2009

 

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