Zufall: AKW statt Eltern

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Ein – wie ich finde – bedeutendes sozialphilosophisches Werk unserer Zeit (1) beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Beobachten und Denken. Können wir überhaupt denken, ohne irgendetwas beobachtet zu haben. Können wir überhaupt beobachten, ohne irgendetwas bedacht zu haben. Fragen über Fragen, die mich bis heute nicht loslassen.
Keine Frage: man darf sich nicht von Signifikanzen blenden lassen. Signifikanzen sind statistische Auffälligkeiten. Wikipedia definiert wie folgt:

In der Statistik heißen Unterschiede signifikant, wenn sie einer Nullhypothese so sehr widersprechen, dass diese Diskrepanz unwahrscheinlich nur durch Zufall zustande gekommen ist. Unwahrscheinlich heißt hierbei in der Regel maximal 5 Prozent Wahrscheinlichkeit. 

Die Rede ist also von Statistiken, empirischen Erhebungen, also: Beobachtungen. „Sich nicht von Signifikanzen blenden lassen“ heißt also: man kann nicht jeder Beobachtung trauen. Ich z. B. beobachte jeden Tag, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Allerdings werde ich damit konfrontiert, dass Bücher und schlaue Leute mir ständig versichern, dass Gegenteil sei der Fall.
Also: damit aus einer Beobachtung Wissenschaft wird, muss sie plausibel erklärt werden können. Eine Theorie muss also her. Wenn ein Gedankengebäude (Theorie) durch Beobachtungen (Empirie) bestätigt wird, kann von einer wissenschaftlichen Aussage gesprochen werden. Aber auch erst dann! Sie ist gültig bis zum Beweis des Gegenteils. Eine Theorie kann nie verifiziert (als Wahrheit ausgegeben); sie kann falsifiziert, also widerlegt werden.

Zufall ...

Beobachtungen ohne Erklärung besagen zunächst einmal gar nichts. Man kommt nicht darum herum, eine Statistik z. B. zu bedenken (2). Schon gar, wenn aus irgendwelchen Zahlen Ursache-Wirkungs-Verhältnisse (Kausalitäten) abgeleitet werden sollen.
Beispiel: unter den deutschen Ländern ist Schleswig-Holstein dasjenige mit den meisten (nein: weder Kindstötungen noch AKWs; warten Sie doch die Zeit ab!), mit den meisten Störchen – aber auch mit der höchsten Geburtenrate. Dennoch glaubt Wikipedia komischerweise nicht an den Klapperstorch:  

Zu bedenken ist darüber hinaus stets, dass aus statistisch signifikanten Korrelationen oft fälschlich auf eine vermeintliche Kausalität geschlossen wird (Beispiel: Zwischen 1960 und 1990 korrelierte die Zahl der Störche in Deutschland signifikant mit der Geburtenrate, da beide Zahlen stark gesunken sind, dennoch ist die Kausalität zumindest fraglich).

Im Augenblick sorgt eine sog. Studie für Schlagzeilen, die selbst sagt, das sie für ihre Beobachtung – nach der sie übrigens gezielt gesucht hat – keinerlei Erklärung hat. In der näheren Umgebung von Kernkraftwerken (unter 5 km) sind mehr Kleinkinder (unter 5 Jahren) an Blutkrebs erkrankt als anderswo. Na und ...

AKW ...

Eine Signifikanz, mehr nicht. Sie wissen doch: die Kinder werden nicht vom Klapperstorch gebracht. Die Sonne dreht sich nicht um die Erde. Aha!
Churchill hat einmal gesagt, er glaube nur Statistiken, die er selbst gefälscht habe. Ja, ist doch wahr: wenn man nur lange genug alles Mögliche mit allem Möglichen korreliert, wird irgendwann schon das gewünschte Ergebnis herauskommen. Schon diese völlig willkürliche Auswahl der Bezugsgrößen: warum Kinder unter 5 Jahren (man hätte ja auch unter 27 Jahren sagen können? Warum unter 5 km (man hätte ja auch unter 27 km sagen können?). Warum überhaupt Atomkraftwerke (man hätte ja auch Schokoladenfabriken nehmen können?) Warum ausgerechnet Krebs (man hätte ja auch die Masern nehmen können?)
Gut, dass wir diesen plumpen Versuch der Ökofreaks durchschaut haben. Die WAZ dagegen – heute im Kommentar – fällt, bei gutwilliger Annahme, auf diese miesen Tricks herein. Man könnte jedoch auch böswillig unterstellen, auch sie wolle Propaganda machen gegen die sichersten Kernkraftwerke der Welt. Denn sie schreibt:

Seit Jahren weisen Ärzte darauf hin, dass in der Umgebung von Atomkraftwerken Kleinkinder häufiger an Krebs und Missbildungen erkranken. Bereits 1998 kam der Physiker Alfred Körblein zu entsprechenden Resultaten. 2001 legte er eine weitere Studie vor, wonach die Kinderkrebsrate am Standort Gundremmingen am höchsten sei. Erst nach deutlichen Protesten erklärte sich das Bundesamt für Strahlenschutz bereit, diese Befunde anzuerkennen und weitere Kontrollstudien einzuleiten. So wurde sehr viel Zeit verloren. Und im Sommer 2007 kam eine US-Untersuchung, die Daten aus Spanien, Frankreich, Japan, Nordamerika und Deutschland auswertete, zu dem gleichen Ergebnis: Das Krebsrisiko ist für Kinder in AKW-Nähe höher.

Schreibt die WAZ einfach so. Paff, so steht es da: “Das Krebsrisiko ist für Kinder in AKW-Nähe höher.“
Einfach eine Signifikanz aus willkürlich zusammen gekramten Daten zusammen basteln, eine Kausalität konstruieren und klatsch: AKWs sind böse! Es fällt schwer, hier noch von gutem Willen auszugehen. Selbst auf ihrer Kinderseite schreckt die WAZ vor dieser Agitation nicht zurück: 

In der Nähe solcher Kraftwerke erkrankt im Durchschnitt pro Jahr ein kleines Kind mehr an Krebs als anderswo.

...  statt Eltern

So werden skrupellos Ängste selbst bei unseren Kleinsten geschürt !
Fest steht, es gibt keine Erklärung für diesen Zusammenhang – sagen die Autoren ja selbst. Ich persönlich denke: das ist Zufall (3). Ich habe nicht die Spur einer Idee, warum und wie Atomkraftwerke Leukämie verursachen könnten. Ja, wo hat es denn so was schon mal gegeben ?!
Und selbst, wenn Sie eine Idee haben könnten, welcherlei  kausale Zusammenhang bestehen könnte, sage ich immer noch: Na und ...

Alles Panikmache: ein an Krebs erkranktes Kind im Jahr. Im deutschen Straßenverkehr kommen pro Jahr etwa 150 (Stat. Bundesamt) oder 200 (Charité Berlin) ums Leben. Ja sicher, Atomkraft hat ein Restrisiko; aber wenn Sie danach gehen, dürften Sie sich gar nicht mehr ins Auto setzen. Noch konsequenter: am besten gar nicht erst auf die Welt kommen. Denn es sieht so aus, als sei der Verkehrtod vom Platz 1 der häufigsten Todesursachen für Kinder verdrängt worden. Shooting Star mit über 200 Fällen jährlich in Deutschland: die lieben Eltern.

 

Werner Jurga, 10.12.2007

 

(1) Werner Jurga: Die politische Dimension von Zeit ... Diss. Duisburg 1999.
(2) „Bedenken“ – männliche Sprechweise für: „Angst“; außer beim: Klimawandel.
(3) „Gesetzmäßigkeiten exekutieren sich über den Zufall“ (W. I. Lenin).

 

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