Liebe Bundesrepublik

Die politische Internet-Zeitung aus Duisburg

Auch das noch! Schon wieder ist ein Intellektueller konservativ geworden.

Und das in Deutschland. In Frankreich griff dieser modische Trend schon vor etwa dreißig Jahren stark um sich. Ob er jetzt auch hierzulande zum letzten Schrei wird?
Ausschließen kann man selbstverständlich überhaupt nichts. Und ebenso selbstverständlich gibt es ´ne Menge Leute, die hätten großes Interesse daran. 

Dass das bloß solche Geschichten bleiben,
die man den Enkeln erzählen kann,
es gibt ‘ne Menge Leute, die
haben großes Interesse daran.

So lehrte uns schon der Dichter vor vierzig Jahren, im Jahr der Schweine.
Und sicher: die Gelegenheit scheint jetzt günstig. Oder zumindest dringend. Doch genauso wenig, wie eine Schwalbe einen Sommer macht, macht auch eine Fliege keinen Scheißhaufen, will sagen: ein Spiegel-Redakteur, der seine schwere Kindheit unter Linken bewältigen muss, löst nicht zwingend ein konservatives Rollback aus.

Allerdings: nach Fleischhauer ist jetzt scheinbar noch ein Intellektueller konservativ geworden. Ach was: ich doch nicht! Ich war (bin und werde sein) schon immer konservativ bis auf die Knochen. Das ist bei mir so eine Art Charakterzug. Also nicht zu ändern. Ich habe so meine – möglicherweise tatsächlich etwas eigentümlichen – Ansichten und Gewohnheiten, und da bin ich etwas stur. Da fehlt es mir an mentaler Flexibilität. Ich war schon in jungen Jahren schwer für die Revolution, allerdings ausdrücklich nur unter der Bedingung, dass dafür gesorgt ist, dass das Wasserwerk funktioniert. Lenin hätte seine wahre Freude an mir gehabt!
Ich bin halt ein Spießer und kann es nicht ändern. Ich will es auch gar nicht ändern. Es macht mir Spaß!
Es war 1972, ich wurde 15, heißer Wahlkampf, „Willy wählen“ und so – und der Wahlkampfslogan war "Wir bauen den Fortschritt auf Stabilität". Fand ich schon immer gut; irgendwie auch dialektisch und so.

Also okay: ich war es nicht. Und genau genommen war es auch nicht nach Fleischhauer, sondern vorher. Aber erst jetzt ist mir das Buch aufgefallen, weil dem neuen Cicero wuchtig Reklame dafür beilag. Es heißt:

Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit:
Warum die Krise uns konservativ macht

Es ist schon im Februar erschienen, scheint aber noch etwas Werbung nötig zu haben. Und es ist von Wolfram Weimer. Ich lach´ mich krümelig: von dem Wolfram Weimer, dem Herausgeber und Chefredakteur des Cicero, den ich Ihnen auf dieser Webseite schon wiederholt – im Guten wie im nicht ganz so Guten – ans Herz gelegt habe. Und den hat die Krise jetzt konservativ gemacht.
Ich kann echt nicht mehr :-))). Sie müssen wissen, ich bin nämlich Cicero-Abonnent – macht sich gut, wenn mal Besuch im Haus ist. Wissense gleich Bescheid: Intellektueller!
Weimer ist konservativ geworden – nachdem er bei der FAZ und der WELT immer ganz hart am linken Rand gerudert hatte. Das ist aber auch eine Krise: der Papst ist jetzt katholisch geworden, wohingegen der Metzger endlich den Vegetarier-Quatsch drangegeben hat. Und damit wir alle wissen, wie das geht, weil uns das allen ja so schrecklich neu ist, hat Weimer dieses Kursbuch zum Konservativsein geschrieben – so der Untertitel des Werks.
Und so geht es im Klappentext los:

Dieses Buch ist ein fröhlicher Leitfaden zum Konservativsein im neuen Deutschland. Eine kämpferische Fibel der 89er-Generation und ein Brevier für den wahren Konservativen.
Klasse! Nein, nicht die 89er-Generation, für die Weimer – Jahrgang 1964, okay: passt - zu sprechen sich anmaßt, sondern dieser Weimer-Sprech. Echt Spitze, dieses Brevier für den wahren Konservativen. Also auch für den wahren Intellektuellen, klar: Cicero, bürgerlicher Salon und so.
Der wahre Intellektuelle weiß natürlich: Konservativsein ist progressiv. Stillstand ist Fortschritt. Mief ist irgendwie poppig. Schluss des Klappentextes:
Das geistige Kompendium der neuen Bürgerlichkeit wird unterhaltsam sortiert und zu einem völlig neuen Ausblick gebracht.
Wow!
Weimers Leitartikel in der neuen Ausgabe des Cicero heißt:

Liebe Bundesrepublik

Auch echt fetzig! Ein Offener Brief an die – wie der Titel schon verrät: Liebe Bundesrepublik. Der Intellektuellen-Häuptling zieht ein Resumé zu 60 Jahren Vaterland. Alles Spitze, alles wunderbar, was eigentlich die Frage aufwirft, warum der gute Weimer überhaupt politischer Publizist geworden ist. Aber klar: wegen all der Gewerkschafter und Linken, die immer etwas rumzumäkeln haben.
So spricht er halt, der Konservative.
Und er hat ja nicht ganz Unrecht. Dieser Staat ist, auch ohne dass man in Rechnung stellt, wer ihn aufgebaut hat, ohne Zweifel eine großartig gelungene Angelegenheit. Übrigens auch deshalb, weil es ganz viele Leute gibt, die – manchmal auch, ohne dass sie etwas davon haben – immer etwas rumzumäkeln haben.

Und noch etwas: der Wahlslogan von 1972 "Wir bauen den Fortschritt auf Stabilität" war übrigens von der CDU. Die ist dann jedoch nicht dazu gekommen, die entsprechenden Bauarbeiten durchzuführen. Die SPD erzielte das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Ich habe dann angefangen, bei den Jusos mitzumachen. In die SPD eintreten durfte man damals erst mit 16 Jahren.

Werner Jurga, 02.06.2009

 

P.S.: dieses Stück Liebeserklärung an die wahre Dame der Weltbühne gefällt mir, ob nun die Bundesrepublik oder Frau Merkel gemeint ist, auch wenn es also der Nationalismus der bürgerlichen Salons oder einfach nur CDU-Reklame ist. Okay, schreiben kann er, der Weimer.

Ob sie nun in Dubai künstliche Inseln ins Meer werfen, in Schanghai mit flimmernden Hochhäusern protzen, in der arabischen Wüste Skihallen bauen oder wie Rocker mit Private-Equity-Milliarden durch die globale Unternehmenswelt ziehen – das globale Kerletum triumphiert. Die Grundpose dieser Heldentaten hat immer etwas von einem Technotanz vor dem heimischen Spiegel. Ganz zu schweigen von Gewalttätern wie Gaddafi, Chávez oder Ahmadinedschad, schwer erträgliche Typen, deren Testosteronspiegel irgendwie nicht zu ihrer sozialen Intelligenz passt. Und selbst unter den Demokraten obsiegen inzwischen die Macho-Sarkozys, Angeber-Berlusconis und Putin-Protzer. Neben diesen Djangos wirkst Du wie die wahre Dame der Weltbühne, eine unprätentiöse Kraft des Ausgleichs.

 

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